Graue Schatten
war und gerade so bis an die Kante des Weges reichte.
„Wir kommen gleich runter“, rief er in den Abgrund hinein. Dann schaute er sich noch einmal den Weg an. Ein mit einer hauchdünnen Eisschicht bedecktes Rinnsal verlief quer zum Weg und floss am Rand in die Tiefe, genau an der Stelle, an der Uschi mit Spezialfolie und Gips Schuhspuren sicherte. Dort befand sich eine größere vereiste Fläche. Uschi schaute herüber.
„Hier könnte sie ausgerutscht sein.“ Sie zeigte auf den Rand der vereisten Stelle. Der Hauptkommissar konnte keine Schuhspuren entdecken, aber an den vielen nummerierten Schildchen sah er, dass welche vorhanden sein mussten.
„Ich geh mal runter“, erklärte Schell und bestieg die Leiter.
„Seid ihr mit der Stelle da schon fertig?“, drängelte wieder Strobe. Er hätte sich das gerne von Nahem angesehen.
„Bleib fort!“, herrschte ihn Uschi an.
„Also, dann wage ich auch mal den Abstieg.“ Der Hauptkommissar rüttelte seinen Hut auf dem Kopf fest und steckte seinen langen Schal in den Mantelausschnitt. „Steht die sicher?“, rief er Schell zu, der bereits unten angekommen war.
„Wacklige Angelegenheit“, antwortete der. Er hielt die Leiter unten fest und Strobe stieg hinab. Auf halber Höhe sah er, dass die Leiter an einem Felsvorsprung angelehnt war. Hier ging es mindestens zwei Meter senkrecht in die Tiefe. Weiter rechts, wo die Frau, Uschis Meinung nach, gestürzt sein sollte, hatten abgerutschte Erdmassen eine Schräge gebildet. Die war so wie der ganze Boden der Senke, in der sie sich befanden, mit Moosen und Farnen bewachsen. Und es gab massenhaft Gestrüpp. Dort musste ein Sturz nicht unbedingt tödlich enden. Ein gesunder Mensch hätte sich noch festhalten können und wäre dann vielleicht das letzte Stück gerutscht.
Jetzt sah Strobe die Leiche. Sie lag noch ein paar Meter weiter unten, wie ein aus großer Höhe abgestürzter Bergsteiger. Völlig in sich verdreht.
Er gab den beiden die Hand, als er heil angekommen war. Schmidtke meinte, er habe wegen dieses so dermaßen wichtigen Falls seine Mittagspause um fünfzehn Minuten verkürzt. Worauf Strobe entgegnete, dass er die Zeit gerne an seine eigene Pause anhänge, um damit auf die tariflich vorgeschriebene Pausenzeit zu kommen, falls er heute überhaupt dazu käme Mittag zu machen. Wie auf Kommando meldete sich sein Magen mit einem Knurren. Deshalb ging er schnell zu einem anderen Thema über.
„Schon irgendwelche Erkenntnisse?“, fragte er, während er die tote Frieda Müller betrachtete. Sie hatte einen schweren braunen Filzmantel an. Ihre verdrehten Augen und ihr Mund waren offen. Vielleicht hatte sie noch geschrien.
„Todesursache ist wahrscheinlich Genickbruch“, antwortete Dr. Schmidtke. „Den Todeszeitpunkt kann ich dir gleich ziemlich genau sagen.“
Er zog eine Mappe aus dem Alukoffer, der auf Moos gebettet zwischen Farnwedeln hervorschaute. „Der Pupillenreaktion, Totenstarre und Totenflecken nach, ist sie etwa drei Stunden tot. Jetzt guck ich schnell, was mir die Leichentemperatur verrät.“
Er hatte die Mappe aufgeschlagen und studierte eine Tabelle.
„Dreieinhalb Stunden. Der Todeszeitpunkt dürfte also bei etwa zehn Uhr liegen.“
„Dann ist sie etwa dreißig Minuten, nachdem sie das letzte Mal im Keller des Hauses gesehen wurde, hier abgestürzt“, konstatierte Strobe und fragte: „Sonst?“
„Sie hat Schürfwunden an Armen, Gesicht und Kopf. Alles vom Sturz. Vermutlich ist sie mit dem Kopf aufgeschlagen und den Abhang hinunter bis hierher gerollt. Hat allerdings keine starken Blutungen. Genaueres zur Todesursache wie immer nach der Obduktion. Interessant ist aber noch ein Hämatom am rechten Handrücken, beziehungsweise an der Handkante. Das stammt sicher nicht von diesem Sturz.“
Er drehte die Hand der Toten so, dass Strobe den etwa drei bis vier Zentimeter langen roten Streifen sehen konnte, und fragte: „Was fällt dir auf?“
„Ein schnurgerader roter Streifen.“
„Genau das ist es. Davon abgesehen, dass ein Hämatom in dieser Ausprägung schon älter als dreieinhalb Stunden sein dürfte. Die Form der Hauteinblutung weist auf eine schmale, gerade Kontaktfläche des verletzenden Gegenstands hin. Ein Stock vielleicht. Oder die Kante eines Türrahmens, gegen den sie mit der Hand geschlagen ist.“
„Interessant, auch wenn das kein Hinweis auf Fremdeinwirkung bei dem Sturz von da oben ist, wenn ich das richtig sehe“, bemerkte Strobe.
„Allerdings, damit kann ich
Weitere Kostenlose Bücher