Graue Schatten
ausmachen, die Akten von allen rauszulegen, die im letzten halben Jahr verstorben sind? Wie viele sind das?“, fragte Strobe plötzlich, aus einem inneren Impuls heraus.
„Das sind insgesamt vier. Frau Müller schon mitgerechnet“, antwortete der Dicke, nach kurzem Überlegen.
„Das heißt also, im letzten halben Jahr sind vier Heimbewohner gestorben, davon drei in den letzten zehn Tagen?“, fragte Schell sofort, stolz, schneller als der Hauptkommissar gerechnet zu haben.
„Um ehrlich zu sein, alle vier in den letzten zehn Tagen“, antwortete Stur. „Der letzte Todesfall, am vergangenen Sonntag, der hatte allerdings eine natürliche Ursache.“
Schell schaute vielsagend zu Strobe.
„Gut, bringen Sie die Akte auch noch. Der Vollständigkeit halber.“ Strobe war bemüht, locker zu klingen. Er merkte, dass der Pflegedienstleiter schwitzte, und war sich nicht sicher, ob das an der Temperatur im Büro oder daran lag, dass der Dicke nervös wurde.
Stur holte die Akten aus dem Regal und legte sie auf den Schreibtisch. Den ersten Ordner griff sich Strobe und schlug ihn auf, Schell nahm sich einen anderen vom Tisch.
„Wie gesagt, zwei Todesfälle waren Unfälle“, erklärte Stur und setzte sich wieder.
Schell hatte gerade die eingeheftete Kopie eines Totenscheines vor sich liegen und sah bei den drei möglichen Kästchen unter Todesart das Kreuzchen bei nichtnatürlich . Mit der Eintragung des Arztes Bolustod bei respiratorischer Insuffizienz , konnte er auf die Schnelle nichts anfangen.
„Woran sind die beiden mit der nichtnatürlichen Todesursache gestorben?“, fragte er deshalb.
Stur holte erst einmal tief Luft. „Bei beiden Bewohnern war eigene Unvernunft der Hauptgrund für ihren Tod, muss man leider sagen. Unglückliche Umstände spielten auch eine Rolle. Beide Male.“
Die beiden Kommissare schauten den Pflegedienstleiter fragend an. Der sah ein, dass er nun ein bisschen konkreter werden musste.
„Herr Fritz“, der Pflegedienstleiter zeigte auf den Ordner, in dem Schell blätterte, „der ist, vereinfacht gesagt, an einem Mohnbrötchen erstickt.“
„Bolustod“, las Schell von der Kopie des Totenscheines ab. Sein Studium lag noch nicht sehr lange zurück, und plötzlich schien der Groschen zu fallen. Strobe konnte es fast klingeln hören, als der Bub ausrief: „Herzstillstand durch einen Bissen, der sich im Kehlkopf verklemmt hat.“
„Reflektorischer Herzstillstand“, ergänzte Stur und erklärte: „Wenn sich ein größerer Bissen in der Speiseröhre verklemmt und dabei die Atemwege völlig verlegt, und wenn er nicht mehr hochgewürgt werden kann, werden die Kehlkopfnerven dermaßen gereizt, dass die Herzmuskeln sich unwillkürlich zusammenziehen. Die Folge: Das Herz bleibt stehen. Die Nachtwache hat noch den Notdienst gerufen, aber es war zu spät. Der Bolustod tritt immer plötzlich ein. Das Brötchen hatte Herr Fritz wohl im Nachtschrank versteckt und nachts heimlich gegessen, obwohl er wusste, dass er das wegen seiner Schluckstörungen und seinem schwachen Kreislauf nicht durfte. Woher er das Brötchen hatte, kann man nur mutmaßen. Er war an seinem Todestag noch im Rollstuhl alleine unterwegs gewesen. Wir vermuten, er hat sich auf einem der Wagen bedient, mit denen das Frühstück abgeräumt wird, und der für einen Moment unbeaufsichtigt im Flur stand.“
Nun deutete der Pflegedienstleiter mit seinem wurstigen Zeigefinger auf den Ordner in Strobes Händen. „Bei Frau Leutle war es ähnlich. Ein Stück Sahnetorte und ...“ Er zögerte.
Strobe schaute von seinem Ordner hoch.
„Na ja, wie gesagt“, fuhr Stur fort, „eine Verkettung von unglücklichen Umständen. Das war’s, was die gute Frau Leutle das Leben gekostet hat. Und ihre eigene Unvernunft natürlich. Denn das Tortenstück hatte sie nachts aus dem Kühlschrank der Stationsküche regelrecht gestohlen.“
Der Pflegedienstleiter sah, dass Strobe in seinem Ordner blätterte, und half ihm weiter: „Sie können das in den weißen Berichtsblättern nachlesen, ganz hinten im Ordner.“
Mit vor ihm auf dem Tisch liegenden, gefalteten Händen berichtete der Mann nun trotzdem, was der Hauptkommissar inzwischen in Schriftform dokumentiert vor sich liegen hatte.
„Frau Leutle war insulinpflichtige Diabetikerin. Sie hatte aber am Abend wegen einer Infektion kein Insulin bekommen. Das hatte ihr Hausarzt so angeordnet. War auch korrekt. Es wurde dann stündlich der Blutzucker kontrolliert, erst vom Spätdienst, dann von
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