Graue Schatten
und du?“
„Genauso. Paar Phrasen gedroschen, fertig. Dass wir dafür da sind, die Leute zu pflegen, und nicht, um Gott zu spielen und so weiter. Das übliche offizielle Geschwafel.“
„Und damit haben sie sich zufriedengegeben?“
„Schon. Bei dir nicht?“
„Nicht ganz. Die waren hartnäckig. Eine Dreiviertelstunde haben sie mich gelöchert.“
„Ups.“ Locke schien beeindruckt. Oder er begann nachzudenken. Kevin war sich nicht sicher. Jedenfalls zog er schweigend an seiner Kippe, bis Kevin aussprach, was ihn schon seit zehn Minuten beschäftigte: „Und von dir wollten sie wissen, ob du mit mir zusammengearbeitet hast?“
„Korrekt“, antwortete Locke, als ob es dazu nicht mehr zu sagen gäbe.
„Sonst nichts? Ich meine, wollten sie vielleicht wissen, worüber wir uns so unterhalten, ob ich mal überfordert gewirkt habe oder wie ich über Sterbehilfe denke?“
„Allerdings“, gab Locke zu. „Aber du glaubst doch nicht, ich bin so blöd und plaudere aus dem Nähkästchen?“
Kevin musterte seinen Kumpel nur, der seinerseits, anscheinend durch seinen skeptischen Blick irritiert, versuchte, sich zu verteidigen: „Meinst du, ich tische den Miss-Marple-Freaks auf, dass wir die ganzen pseudolebensverlängernden Maßnahmen ablehnen, die hier langsam Einzug halten? Meinst du, ich erzähle denen, dass die Schulmedizin lieber mal die alternativen Methoden anerkennen sollte, als den Leuten immer mehr und noch längere Schläuche in die mehr toten als lebendigen Körper zu stecken, um damit doch nur ihre Körperfunktionen zu erhalten?“
Kevin nickte nur, sagte aber immer noch nichts. Hatte sich sein Kumpel heute Morgen schon einen Joint reingezogen, so wie er gerade in Fahrt war? Und hatte er gestern wirklich nichts davon durchsickern lassen, wie Kevin über die Vorherrschaft von Beatmungsmaschinen, Tracheostomas, Dauerkathedern, PEGs und sonstigen siechtumverlängernden Maßnahmen dachte? Schließlich gab es da ja auch noch einen gewissen Unterschied in ihren Ansichten, den der Langhaarige aber immer wieder leugnete. Der tat manchmal so, als ob Kevin, so wie er selber, am liebsten Ärzte und Maschinen abschaffen, dafür aber Schamanen und Voodoo einführen würde.
Dabei wollte Kevin nur, dass die Götter in Weiß sich mehr öffneten und, was die letzte Lebensphase ihrer Patienten betraf, mehr dafür interessierten, ob jemand überhaupt noch leben wollte. Und dass sie dabei vielleicht auch mal in sich selber hinein hörten. Das war zwar kein leichtes Thema, aber allemal interessanter als der regelmäßig stattfindende Wettkampf Arzt gegen Tod, bei dem der Sterbende doch nur der Ball oder das Spielfeld war.
Jedenfalls konnten die Bullen durchaus aus einer einzigen unbedachten Bemerkung Lockes in dieser Richtung Schlüsse ziehen, die in der momentanen Situation überhaupt nicht gut für Kevin wären.
Drei Minuten vor halb zehn sagte er zu seinem verblüfften Kumpel, der gewöhnt war, dass sie gemeinsam die Pause überzogen: „Du, nimm's mir nicht übel, aber wir sind oben voll im Seich. Wir sind einer weniger. Ich pack's mal. Bis später!“ Er steckte seinen Tabak ein und ging nach oben auf die Station.
Nach dem Frühstück verlief der Arbeitstag für ihn ganz normal, sogar verhältnismäßig ruhig – bis zu dem fatalen Augenblick drei Stunden später, als der hauchdünne Boden, auf dem Kevin durchs Leben schlenderte, plötzlich einbrechen sollte.
Es war kurz nach halb eins. Larissa holte Frau Schmidt aus dem Speisesaal im Erdgeschoss ab. Die geistig rege Zweiundachtzigjährige hatte gerne Gesellschaft, wollte nicht allein in ihrem Zimmer, andererseits aber auch nicht mit den verwirrten Bewohnern auf der Station essen. Mit denen konnte sie sich nicht unterhalten, sie sabberten oder verdarben ihr auf andere Weise den Appetit. So wurde Frau Schmidt jeden Tag Viertel vor zwölf in ihrem Rollstuhl zum Mittagessen nach unten gefahren und eine Dreiviertelstunde später wieder abgeholt.
Larissa übernahm das immer gerne, auch wenn sie wie jetzt eine Weile vor dem Aufzug warten musste, weil um diese Zeit etliche Bewohner wieder auf ihre Zimmer wollten. Sie könnte auch zum zweiten Aufzug, gegenüber, laufen. Aber mit dem wurden jetzt Geschirrwagen von den Stationen hinunter in die Küche gefahren, weshalb sie dort mitunter genauso lange warten musste. Ohnehin nutzte sie die Zeit gerne für ein Schwätzchen mit Frau Schmidt.
Sie hatten schon fast zehn Minuten vor dem Aufzug gestanden, als Larissa aus
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