Graue Schatten
dem Augenwinkel die beiden Zivil-Polizisten, die gestern die Befragung durchgeführt hatten, durch den Haupteingang ins Heim kommen sah. Der ältere nickte kurz in Richtung der Menschenansammlung im Foyer zwischen Speisesaal und Lift. Die zwei bogen in die andere Richtung, zu den Büros, ab. Als Larissa Frau Schmidt in den Aufzug schob, sah sie gerade noch, dass die Polizisten entweder an Sturs oder an Heilmanns Tür klopften und in einem der beiden Zimmer verschwanden. In welchem, das konnte sie aus der Entfernung nicht feststellen.
Auf der Fahrt in den zweiten Stock hörte sie Frau Schmidt reden und hatte bereits mit „Ja“ geantwortet, als sie feststellte, dass sie gar nicht wusste, was die Bewohnerin gerade gesagt hatte. Die beiden Kripobeamten hatten Larissa für einen Moment wieder in die Befragung am gestrigen Nachmittag katapultiert. Irgendwas war da im Gange und sie kriegte nicht auf die Reihe, was. Eigentlich hatte sie ja nichts vor der Polizei zu verbergen. Oder? Ein ungutes Gefühl beschlich sie.
Oben schob sie Frau Schmidt in ihr Zimmer, wo sie im Sessel ein Mittagsschläfchen zu halten pflegte. Auf dem Gang fuhr Hildegard mit dem Geschirrwagen von Zimmer zu Zimmer.
Hilde war nur ab und zu für zwei Stunden täglich da. Sie putzte, räumte Wäsche auf, half den Kaffee zu verteilen oder deckte, so wie jetzt, nach dem Mittagessen die Tische ab. Wenn sie Dienst hatte, war das Pflegepersonal nach dem Mittag entlastet. Aber heute waren ohnehin alle besonders früh fertig geworden. Die gesamte Frühschicht saß bereits im Schwesternzimmer und erledigte die Dokumentation.
„Die beiden von der Kripo sind wieder da“, offenbarte Larissa den anderen beiläufig, als sie den Raum betrat.
Ein Stöhnen Irenes ging durch den Raum. „Was wollen die schon wieder hier?“
Renate, die am Computer saß, meinte: „Vielleicht haben sie die mysteriöse Anruferin gefunden.“
„Die machen halt auch ihre Arbeit“, merkte Irene an.
Kevin drehte sich auf seinem Stuhl am Tisch zum Fenster und schaute hinaus. „Mal gucken, ob Harry schon den Wagen vorgefahren hat ... Sieht nicht so aus. Vermutlich hat Derrick scharfsinnig ermittelt, dass sie weniger laufen müssen, wenn sie den Besucherparkplatz nehmen und durch den Haupteingang gehen“, mutmaßte er dann.
„Mir ist überhaupt nicht zum Scherzen zumute.“ Larissa setzte sich erschöpft an den Tisch.
„Wir haben uns doch nichts vorzuwerfen“, plapperte Irene und tätschelte Larissas Arm. „Wir haben ein reines Gewissen. Außerdem hat Herr Stur heute Morgen zu mir gesagt, dass er stolz auf seine Mitarbeiter ist. Unser Heim hat einen guten Ruf, und den lassen wir uns von einer Verrückten nicht kaputtmachen.“
Die hat gut reden, die war gestern nicht dabei und ist nicht befragt worden, dachte Larissa.
„Apropos“, schaltete sich Renate ein. „Die Ullmann wird heute Nachmittag herkommen, die Sachen ihrer Mutter holen. Sie hat im Büro angerufen.“
„Hoffentlich kommt sie, wenn wir weg sind“, betete Irene.
„Stur hat nicht gesagt, wann sie kommen will“, warnte Renate.
„Hat sie nicht gleich mit einer Anzeige gedroht?“, wollte Larissa wissen.
„Anscheinend nicht. Heilmanns Sekretärin war am Telefon, als die Ullmann angerufen hat. Sie hat nur ausrichten lassen, dass sie die Sachen holen will.“
„Gott sei Dank hat sie sich nicht mit uns verbinden lassen“, seufzte Irene.
„Freu dich nicht zu früh. Ich denke schon, dass da noch was nachkommt“, mutmaßte die Stationsleiterin.
Jette und Bodo von der Spätschicht trafen ein. Bodo war einige Jahre im Team gewesen und jetzt Schichtleiter der Gegenschicht. Bei dem Altenpfleger, der vor zwanzig Jahren ein Psychologiestudium geschmissen hatte, konnte Larissa immer ihren Kummer abladen. Bodo vermochte wunderbar zuzuhören und wusste für jede knifflige Angelegenheit den passenden Rat. Larissa besuchte ihn manchmal auf Station, wenn sie frei hatte. Nur so, um zu quatschen.
Die zwei wollten natürlich über alles informiert werden, was gestern hier passiert war. Auch als es längst Zeit für die Übergabe war, unterhielten sich noch alle über Frau Müller, den anonymen Anruf, die Kripo und Anna, die wohl noch immer unter Schock stand. Renate musste schließlich daran erinnern, dass es noch anderes zu besprechen gab.
Hinter dem Dokumentationskarteiwagen sitzend begann sie, einen Namen nach dem anderen vorzulesen. Es kamen nicht viele Anmerkungen aus der Runde. Wenn Irene etwas sagte, wurde sie
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