Graue Schatten
Frau Stiegler oder der Herr ...“, der Hauptkommissar sah zu dem Jungen, ihm fiel wohl ein Name nicht ein.
„Stiller, Bodo“, half der Junge aus.
„Oder ob der Herr Stiller die Ampulle aus dem Tresor genommen hat, können wir schnell feststellen. Herrn Stiller fragen wir gleich. Die Telefonnummer der Stationsleiterin haben wir. Frau Groß, Sie können dann gehen. Vielen Dank“, sagte der Kommissar plötzlich. „An Sie, Herr Linde, haben wir noch ein paar Fragen.“
„Ihre Schuhe holen wir uns nachher drüben in ihrer Wohnung“, raunte der junge Kommissar Larissa noch zu. Sie nickte ein bisschen verwirrt und ließ ihren coolen Kollegen und guten Freund mit Derrick und Harry allein.
Erst im Treppenhaus registrierte sie, wie ihr Herz wieder bis zum Hals klopfte. Was hatte das alles zu bedeuten? Das Einzige, was immer offensichtlicher wurde, war: Kevin schien ernsthaft in Schwierigkeiten zu stecken.
In ihrer Wohnung versuchte sie sofort wieder Betti anzurufen. Mit dem gleichen Resultat wie an den letzten beiden Tagen: In der Praxis war sie nicht mehr, auf ihrem Handy meldete sich die Mailbox.
Seit Dienstag hatte Betti nichts mehr von sich hören lassen. Seit drei Tagen hatten sie sich nicht mehr gesprochen! Das war in den letzten Jahren nicht ein einziges Mal vorgekommen! Und das nur wegen eines neuen Mackers? Das war doch noch nie ein Grund gewesen, sich überhaupt nicht zu melden! Sollte sich Betti so verändert haben?
Mit wem sollte Larissa nun überhaupt reden? Plötzlich überrollte sie eine regelrechte Welle der Einsamkeit. Ein Stück ihrer Welt schien einfach weggerissen zu werden. Sie wusste nicht wodurch oder wohin. Aber sie hatte das unklare Gefühl, dass es ihre Betti, so wie sie sie seit vielen Jahren kannte, nicht mehr gab. Und dasselbe galt vielleicht auch für Kevin.
Mechanisch ging sie zum Kühlschrank, nahm sich einen Joghurt heraus, dazu einen Löffel aus der Schublade, und ging damit zum Wohnzimmerfenster. Sie schaute über den Hof zum erleuchteten Fenster des Schwesternzimmers von Station B. Es ist erst früher Nachmittag und doch schon so dunkel, dachte sie schwermütig.
Ein Streifenwagen fuhr in den Hof. Sie vergaß den Joghurt in ihrer Hand und starrte hinüber zum Heim. Der Streifenwagen hielt vor dem großen Eingang, im Winkel zwischen Nord- und Westflügel. Zwei uniformierte Polizisten stiegen aus und gingen ins Haus. Larissa stand da wie gelähmt.
Wenige Augenblicke später kamen die Polizisten wieder heraus. Zwischen ihnen Kevin. Er hatte sich umgezogen, hatte seine Jeans und die braune Lederjacke an. Als er hinten in den Streifenwagen einstieg, sah es aus, als ob er zu Larissa herüberlächeln würde. Aber das bildete sie sich wohl nur ein.
Die beiden uniformierten Polizisten stiegen ebenfalls ein. In der Hoftür erschienen die beiden Kripobeamten. Der grün-weiße Kombi wendete im Hof und fuhr an Larissas Fenster vorbei auf die Straße hinaus. Sie sah ihm nach, bis er hinter dem Südflügel verschwunden war. Jetzt waren auch die beiden Kommissare weg, vermutlich wieder ins Haus hineingegangen.
Larissa fragte sich, ob das alles Wirklichkeit war oder ob sie träumte. Im Hals hatte sie plötzlich einen dicken Kloß.
Im Kellergeschoss des Sonnenweiß-Stifts, an der Stelle, wo gestern Frieda Müller, anscheinend von ihrer Gehbehinderung geheilt, aufgestanden und davongelaufen war, hatten zwei Kriminalbeamte soeben Kevin Linde der Schutzpolizei übergeben. Seit Hauptkommissar Strobe während Larissa Groß‘ Befragung den Anruf seines Chefs erhalten hatte, waren sie nun das erste Mal unter vier Augen. Schell war gezwungen gewesen, sich die Informationen, die Strobe vorhin via Handy erhalten hatte, aus dessen Fragen an Kevin Linde abzuleiten oder nun seinem Kollegen mühsam abzuringen. Das war Strobe bewusst. Er war der Meinung, wenn er Schell manchmal ein paar Fakten vorenthielt, dachte der besser mit.
Aber momentan lästerte der Bub erst mal: „Was hast du gestern gesagt? Jung sei ein dienstbeflissener Staatsanwalt, der aus ein paar Indizien einen Serienmord bastelt?“
„Na, so weit sind wir ja nun auch noch nicht! Wir haben jetzt einen Mord, aber noch keine Mordserie“, verteidigte sich Strobe.
„Immerhin, wenn Staatsanwalt Jung nicht gestern sofort die Obduktion der Sausele angeordnet hätte, wäre dieser Mord für immer unentdeckt geblieben. Die Leiche wäre morgen im Ofen gelandet.“
Strobe ließ ihn labern. Sollte der Bub seinen Triumph auskosten. Doch
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