Graue Schatten
ein Medikament bekommen, das sie nicht hätte kriegen dürfen. Das Medikament fehlte und Linde hatte Zugang zum Giftschrank. Auch ein Motiv war vorhanden. Außerdem, wer sollte außer ihm überhaupt die Gelegenheit gehabt haben, der Frau nachts eine Spritze zu geben? Wer war zum Todeszeitpunkt von Frau Sausele noch im Haus?
„Nur die Nachtwache im zweiten Stock. Und die Bewohner natürlich.“
„Dann brauchen wir Name und Anschrift der zweiten Nachtwache.“
Stur gab dem Hauptkommissar die Adresse und fragte, wie es nun weitergehen würde.
Strobe erklärte ihm, dass Kevin Linde natürlich intensiv verhört und auch seine ehemalige Freundin befragt würde. Man müsste nun versuchen, möglichst viel über den Pfleger und seine möglichen Tatmotive zu erfahren.
Es gebe nun zwei Fälle zu untersuchen, und es könnte passieren, dass die Staatsanwaltschaft jetzt Exhumierungen anordnete. Was den Fall Frieda Müller beträfe, da würde man Bodenproben und Fotos der Schuhabdrücke von der Unglücksstelle mit den Schuhen der Pfleger vergleichen, die an der Suche beteiligt gewesen waren. Und die Akten der vier Verstorbenen müssten sie jetzt leider mitnehmen.
„Übrigens, durfte Herr Linde überhaupt offiziell Spritzen geben?“, fiel Strobe noch ein.
„Intravenöse Injektionen verabreicht hier in der Regel nur der Arzt. Aber Herr Linde könnte es, er hat das als Krankenpfleger gelernt.“
„Das hab ich befürchtet. Eins noch: Wir brauchen einen Kopfkissenbezug, wo dürfen wir den wegnehmen?“
Der bekümmerte Pflegedienstleiter bat die Kriminalbeamten, einen Moment zu warten, ging aus dem Büro und kam eine Minute später mit einem gelb-weißkarierten, sauber zusammengelegten Stück Stoff in der Hand zurück. Die beiden bedankten sich, ließen Stur allein und gingen zum Auto. Schell mit vier dicken Ordnern auf dem Arm, Strobe mit einer prall gefüllten, weißen Plastiktüte in der Hand. In dieser lagen, wiederum separat eingetütet, vier Paar Arbeitsschuhe. Eine alte Frau, die in ihrem Rollstuhl im Foyer saß, winkte ihnen hinterher.
Es war inzwischen dunkel draußen, doch der Feierabend schien in weite Ferne gerückt.
Im Auto sagte Schell: „Hätten wir uns nicht gleich alle Akten geben lassen sollen, von den Leuten, die irgendwann während Lindes Arbeitszeit gestorben sind?“
Strobe blies die Luft aus. „Das hat Zeit, die Akten laufen uns nicht weg und die Verstorbenen auch nicht. Der Junge arbeitet seit neun Jahren hier, wenn ich mich richtig erinnere.“
„Richtig“, bestätigte Schell.
„Na also. Weißt du, was das für ein Geschäft ist, alle Dienstpläne der letzten neun Jahre mit den Daten der Verstorbenen zu vergleichen? Wir kümmern uns jetzt um die Fälle Sausele und Müller. Die zwei anderen Akten sollen sich Sachverständige ansehen, und unser eifriger Staatsanwalt wird entscheiden, ob er die Toten ruhen lassen wird oder nicht. Dann sehen wir weiter. Glaub mir: Uns bleibt noch genug Arbeit.“
Das glaubte ihm Schell sofort.
Strobe schaute auf das Blatt, das Stur ihm gegeben hatte, anschließend gab er eine Adresse ins Navigationssystem ein. „Fahren wir also zuerst zu Sausele Junior, der ist ja um die Zeit immer in seiner Firma, wie er gestern meinte. Danach besuchen wir die zerstreute junge Dame, die ihr freiwilliges soziales Jahr im Pflegeheim ableistet. Vielleicht gibt sie zu, dass sie an der Unglücksstelle war. Zuletzt sollten wir noch bei dem Hausarzt vorbeischauen, der Marta Sausele das Morphium gespritzt hat.“
„Dr. Hansen. Apropos Unglücksstelle. Die Schuhe von Larissa Groß fehlen noch, oder?“
„Stimmt! Fast vergessen.“
Strobe ließ den Motor an. Sie fuhren die dreißig Meter vom Parkplatz zum Hoftor und parkten verbotenerweise auf dem Wendehammer, an der Stirnseite des Wohnheimes. Dort befand sich der Vordereingang des Gebäudes. Wenige Sekunden, nachdem Strobe auf die Klingel mit der Aufschrift Groß gedrückt hatte, surrte der Türöffner. Oben erwartete sie die Pflegerin schon an der Tür, mit den weißen Arbeitsschuhen in der Hand. Strobe bemerkte, dass die Schuhe aussahen, als wären sie neu. Darauf angesprochen, bestätigte Larissa das. Woraufhin ihr Strobe versicherte, dass sie sie in ein paar Tagen wohlbehalten zurückbekäme.
Wie geplant, fuhren sie zuerst zu Marta Sauseles Sohn. Direkt gegenüber vom Baumaschinen-Verleih-Sausele stand eine Imbissbude, die sie bereits am gestrigen Tag kennengelernt hatten, und die Strobe direkt ansteuerte. „Ich muss
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