Graue Schatten
Beruhigungsmittel bekäme sie nur bei Bedarf und nur abends. Da wäre das gespritzte Morphium längst abgebaut gewesen.
Für Strobes Geschmack sagte der Arzt das etwas zu bestimmt. Er wollte doch nicht etwa überspielen, dass er sich doch nicht so sicher war? Dass die Ampulle mit zehn Milligramm Diazepam, die aus dem Giftschrank entwendet worden war, zusammen mit Morphium zum Tod hatte führen können, bestätigte der Arzt dann.
Die Situation auf der Pflegestation betreffend, speziell was Kevin Linde anging, stimmte er in das Loblied der Sonnenweiß-Mitarbeiter ein: Soweit Hansen das mitbekommen hätte, sei Linde sehr kompetent und auch freundlich zu Angehörigen und Bewohnern.
Ein mögliches Motiv für einen Mord durch Pflegekräfte bestätigte der Arzt dann immerhin: Frau Sausele sei in letzter Zeit in der Tat unerträglich gewesen. Sie hätte starke Schmerzen gehabt, die er als Hausarzt nur allmählich in den Griff bekommen hätte. Sie hätte ihre Umgebung mitleiden lassen. Er hätte mitbekommen, dass sie die Mitarbeiter des Heimes schikaniert, ja, regelrecht terrorisiert habe.
Die Beamten bedankten sich und fragten nach Bettina Richter. Die sei nicht mehr da. Sie habe bereits Feierabend. Ihre neue Adresse hätten sie in der Praxis noch nicht, sie sei erst am Sonntag zu ihrem neuem Freund gezogen. Aber ihre Handynummer könnten sie kriegen.
Von Dr. Hansen aus fuhren sie zu Lydia Hauenstein, der zweiten Nachtwache in der Mordnacht. Auch sie wohnte nicht weit entfernt, in der Neckarstraße. Dem Klingelschild nach lebte auch sie offensichtlich allein. Hinter ihrem Namen las Strobe: Bachblütentherapie.
Sie wurden freundlich von einer hübschen schlanken Blondine begrüßt, die Strobe eher für eine Sekretärin in einer Vorstandschefetage als für eine Altenpflegerin gehalten hätte. Nicht nur des perfekt wallenden blonden Haars, der üppigen Oberweite, des endlosen Ausschnitts im lindgrünen T-Shirt, das sie unter einem dünnen, dunklen Blazer zur passenden Hose trug, wegen. Auch die Art, wie sie die Beamten begrüßte und hineinbat, passte eher zu einer eleganten Vorzimmerdame.
Strobe fragte, ob sie gerade habe weggehen wollen. Sie verneinte, sagte aber, dass sie in etwa zwanzig Minuten Besuch erwarte. Strobe meinte, dass ihnen die Zeit bis dahin reichen würde.
Während Lydia Hauenstein den Beamten einen Kaffee machte, was sie sowieso gleich getan hätte, für ihren Besuch, wie sie sagte, ließ Strobe seinen Blick durch ihr Wohnzimmer schweifen. Es war modern eingerichtet, doch nichts Besonderes, wenn man vom zahlreich vorhandenen Wandschmuck absah. Aus den Bildern, Kreisen, Kettchen mit Anhängern und irgendwelchen exotisch wirkenden Symbolen wurde Strobe nicht schlau.
Aber es war nicht so viel Zeit, sich über deren Bedeutung zu unterhalten. Deshalb kamen sie gleich zum Thema. Sie wusste natürlich schon über das Unglück mit Frau Müller und den anonymen Anruf Bescheid. Erwartungsgemäß hatte auch sie nichts Negatives über irgendeine Pflegeperson, geschweige denn über Kevin Linde, zu berichten. Als Strobe Lydia Hauenstein damit konfrontierte, dass auch Frau Sausele keines natürlichen Todes gestorben war und Herr Linde verdächtigt wurde, nachgeholfen zu haben, reagierte auch sie bestürzt. Sie empfand es als furchtbar – allerdings vor allem für den Ruf des Sonnenweiß-Stifts. Das Heim sei eines der angesehensten in der Gegend. Sie fing sich auch sehr schnell wieder, und die Beamten konnten die unvermeidliche Frage nach dem Alibi für die Todeszeit von Frau Sausele stellen.
Sie hatte eins. Ohne allzu lange überlegen zu müssen, erzählte sie, dass sie sich zu jener Zeit mit einer Bewohnerin im zweiten Stock unterhalten habe, weil deren Fernseher kaputt gegangen wäre. Frau Katz hätte ein Geräusch gehört, wäre wach geworden und hätte daraufhin den Fernseher eingeschaltet. Sie habe einen leichten Schlaf. Wenn sie nicht schlafen könne, sehe sie fern, ohne Ton. Und plötzlich wäre nur noch Grieß gekommen, auf allen Programmen. Frau Hauenstein hätte zuerst den Fehler gesucht, an Steckern gerüttelt und so weiter. Ohne Erfolg. Weil die Bewohnerin nun ziemlich aufgewühlt gewesen wäre, hätte sie sich gezwungen gesehen, eine Weile bei ihr zu bleiben und sich mit ihr zu unterhalten.
Strobe fragte, ob die Bewohnerin sich wohl daran erinnern könne.
Das sei möglich. Die Frau bringe zwar viel durcheinander, aber bestimmte Sachen merke sie sich. Und da ihr Fernseher noch immer nicht repariert
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