Graue Schatten
sei, könne sie sich vielleicht noch an die Umstände der Nacht erinnern, in der er kaputt ging. Sie schrieben sich Namen und Zimmernummer der Bewohnerin auf und verabschiedeten sich. Im Hinausgehen konnte sich Schell nicht verkneifen zu fragen, ob der Besuch, den sie erwarte, etwas mit der Tätigkeit zu tun hatte, für die ihr Klingelschild warb. Sie nickte lächelnd und sagte, mit dem Gehalt in der Altenpflege könne man keine großen Sprünge machen. Viele hätten da einen kleinen Nebenjob.
Als sie bei Lydia Hauenstein vor die Haustür traten, schlug die Kirchturmuhr. Genau achtzehn Uhr. Es war finstere Nacht. Schell rechnete aus, dass er, wenn sie jetzt losfahren würden und er im Auto auf dem Laptop schon den Bericht tippen würde, gegen neunzehn Uhr zu Hause sein könnte. Doch Strobe machte ihm einen Strich durch die Rechnung: „Wenn wir jetzt losfahren würden, könntest du das schaffen. Aber da wir schon mal hier sind, fahren wir noch mal ins Heim hoch und holen die Schuhe aus dem Spind der zerstreuten Kleinen.“
Schell stöhnte gequält. Doch Strobe war noch nicht fertig: „Und wenn wir dann schon im Sonnenweiß-Stift sind, versuchen wir auch noch gleich das Alibi dieser Frau Hauenstein zu überprüfen.“
Schell winkte resigniert ab. Als sie wieder im Auto saßen, fragte Strobe seinen Ermittlungspartner, ob er wisse, was das für Symbole an den Wänden in Hauensteins Wohnung seien. Schell konnte nur teilweise helfen: Das eine sei ein indianischer Traumfänger, die bunten Teller verschiedene Mandalas. Die hatten wohl was mit Meditation zu tun. Aber was die Kegel, die Kugeln und die anderen Gerätschaften zu bedeuten hatten, wusste er auch nicht. Auf jeden Fall etwas Esoterisches. Darin waren sich die beiden einig.
Im Büro von Stur sahen sie schon vom Parkplatz aus Licht. „Siehst du“, sagte Strobe, „andere Leute müssen um die Zeit auch noch schaffen.“
Der Pflegedienstleiter saß an seinem Schreibtisch und schwitzte anscheinend schon wieder – oder immer noch. Vor ihm lag ein riesiges Blatt Papier. Eine Tabelle. Strobe sah eine Reihe Namen in der linken Spalte und erkannte einen Dienstplan. Er müsste halt jetzt gucken, wie er die Lücken schließe, stöhnte Stur, ein bisschen vorwurfsvoll.
Aber auf die Sorgen des Pflegedienstleiters konnte Strobe keine Rücksicht nehmen. Er erklärte ihm, dass sie die Arbeitsschuhe Anna Kirchners aus ihrem Spind holen und das Alibi von Lydia Hauenstein überprüfen müssten. Sie sei zwar nicht verdächtig, aber wenn man sie ausschließen könne, könne man sich auf Herrn Linde konzentrieren. Dazu müsse man eine Bewohnerin befragen, eine Frau Katz. Stur sagte, das sei kein Problem, die Frau sei sehr kommunikativ. Er fragte aber, ob es möglich sei, nicht zu erwähnen, dass es um einen Mord ginge. Das war für Strobe kein Problem.
Sie gingen zusammen mit Stur zu den Umkleideräumen. Als sie Annas Schuhe in eine Tüte gesteckt hatten, fuhren sie mit dem Aufzug in den zweiten Stock. Unterwegs fragte Strobe, ob man der alten Dame verkaufen könnte, dass sie von der Krankenkasse seien und überprüfen müssten, ob das Personal sich ausreichend um die Bewohner kümmere. Er würde das Gespräch dann schon in die richtige Richtung lenken.
Von Schell erntete er dafür einen verständnislosen Blick.
So was lernst du halt nicht in der Schule, Bub, dachte Strobe. Stur fand die Idee allerdings ausgezeichnet. Er wirkte sogar etwas erleichtert.
Der Pflegedienstleiter stellte dann auch der Dreiundsiebzigjährigen die Beamten als Mitarbeiter des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen vor, bevor er das Zimmer wieder verließ. Die Frau freute sich außerordentlich über den Besuch.
Strobe tastete sich langsam heran und fragte erst einmal, ob sie zufrieden sei. Damit hatte er schon gewonnen. Die Frau beschwerte sich wortreich, dass ihr Fernseher schon seit Sonntagnacht kaputt sei. Der Hauptkommissar brauchte nur ein paarmal geschickt nachzufragen, dann wusste er, wann und wie lange sich die Nachtwache Lydia Hauenstein Sonntagnacht bei ihr aufgehalten hatte. So eine Nacht vergisst man eben nicht. Die Frau erzählte ungefragt weiter, sodass sich die Beamten schließlich regelrecht losreißen mussten. Beide wollten nun doch endlich Feierabend haben, und auch die Milchschokolade, die ihnen Frau Katz anbot, konnte sie nicht mehr umstimmen.
„Schön ruhig hier, ideal zum Nachdenken“, hatte der Bulle gesagt, bevor er den vergitterten Raum durch die schwere Eisentür
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