Graue Schatten
Vorschuss. Dafür war Kevin sein schwer verdientes Geld zu schade, zumal sie ihn spätestens nach Ablauf des nächsten Tages laufen lassen mussten. Das wusste er von Locke.
Auf dem Rücken auf der harten Pritsche liegend und die Decke mit den summenden Neonröhren anstarrend versuchte er sich in die Bullen hineinzuversetzen: Sie hatten also erstens den anonymen Anruf, der darauf hinwies, dass im Heim jemand Bewohner von ihren Leiden erlöste. Zweitens: Bei der Sausele hatte so ein Leichenfledderer herausgefunden, dass sie außer Morphium noch Diazepam bekommen hatte. Wenn das zum Tod geführt haben sollte, müsste es nachts verabreicht worden sein. Das würden die Rechtsmediziner sicher früher oder später aus der Dosis der Drogen in Sauseles Blut schlussfolgern. Damit würde den Bullen tatsächlich nichts anderes übrig bleiben, als Kevin zu verdächtigen. Mist! Sollte er vielleicht doch die gelben Seiten und ein Telefon verlangen, um einen Anwalt herzubitten?
Aber müssten sie das nicht erst einmal beweisen?
Andererseits waren doch auch schon Leute auf Grund von Indizien verurteilt worden, oder nicht? Und schließlich hatte ihn irgendjemand auf dem Kieker und versuchte ihn reinzureiten. Aber wer?
Die Gedanken drehten sich im Kreise, bis Kevin irgendwann erschöpft einnickte.
Ein paar Minuten später schreckte er hoch. Vielleicht waren auch schon ein, zwei Stunden vergangen. Es war dunkel, die Neonröhren waren aus. Nur eine Straßenlampe warf durch das vergitterte Fenster einen blassen Lichtkegel auf den PVC-Fußboden. Für Sekunden, bevor ihm vollständig bewusst wurde, wo er sich befand, wähnte er sich entsetzt im Pflegeheim. Es war dasselbe matte Licht wie nachts im Ruheraum, im ersten Stock des Sonnenweiß-Stifts! Als er dann festgestellt hatte, dass er in einer Zelle der Polizeidirektion Heilbronn eingeschlafen war, beruhigte ihn das erst einmal.
Aber nur kurz. Dann waren die Bilder des Traums wieder präsent. Wieso träumte er ständig so einen Mist? Er hatte in seinem ganzen Leben nicht so viel geträumt wie in den letzten Nächten. Es war wieder so ein Pflegeheim-Albtraum gewesen. Nur, dass ihn diesmal die Sausele verfolgt hatte. Mit dem gleichen Gesichtsausdruck, der Kevin in der Nacht vom Sonntag zum Montag, um zwei Uhr dreißig, angestarrt hatte.
Zuerst versuchte Kevin die Traumbilder zu verdrängen. Er stellte sich Bettis Gesicht vor. Aber sie erschien so, wie er sie zuletzt gesehen hatte: wütend, aufgebracht. Er schob auch dieses Bild beiseite. Vielleicht hatte sie ihm ja tatsächlich den ganzen Schlamassel eingebrockt? Durch einen anonymen Anruf bei den Bullen? Der Kreis schloss sich. Er sah ein, er musste sich wohl oder übel damit auseinandersetzen, wie er in die Lage gekommen war, in der er sich jetzt befand. Vor allem mit der verhängnisvollen Sonntagnacht.
Er hatte sich bisher keine Gedanken darüber gemacht. Die Ereignisse hatten sich in den letzten Tagen förmlich überschlagen. Alles war einfach so passiert, ohne dass er viel hatte beeinflussen können. Oder hätte er das doch tun können? Was war überhaupt in jener Nacht passiert? Hatte er etwas verdrängt? Oder litt er sogar an einer partiellen Amnesie? Vielleicht war ja doch alles ein bisschen zu viel gewesen.
Er überwand sich und versuchte sich noch einmal die Einzelheiten der Nacht vom letzten Sonntag zum Montag ins Gedächtnis zurückzurufen: Bei der ersten Runde war alles ganz normal gewesen. Kurz nach acht war er bei der Sausele gewesen, hatte sie gelagert, ihr die Morphium-Tablette gegeben. Sie hatte natürlich gezetert und ihr Diazepam gefordert. Kevin hatte ihr erklärt, warum Dr. Hansen das für den Abend abgesetzt hatte. Nun hatte sie es natürlich erst recht haben wollen. Aber er war hart geblieben und schließlich einfach aus dem Zimmer gegangen. Es war natürlich schon seltsam gewesen, dass sie danach nicht geklingelt hatte. Halb drei hatte er sie jedenfalls tot vorgefunden.
Aber was war dazwischen passiert?
Also noch mal zurück den Film: Halb zwei hatte er sich im Ruheraum aufs Ohr gehauen. Wollte nur ein paar Minuten ausruhen, nicht schlafen. Deshalb hatte er auch Lydia nicht Bescheid gesagt. Die legte sich während ihres Nachtdienstes nie hin. Wieso sollte er also schlafen müssen? Lächerlich!
Ein paar Minuten später hatte die Schmidt geklingelt, er hatte reingeschaut, sie hatte fest geschlafen und geschnarcht wie ein Bär. Er hatte gedacht, okay, hat sie eben im Schlaf den Knopf gedrückt. Oder sie war
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