Graues Land (German Edition)
seiner Familie über den Wolken gefällt mir. Gleichzeitig weiß ich allerdings, dass meine Überlegungen nichts weiter als das Wunschdenken eines alten Narren sind. Hätte ich nicht längst etwas von ihm hören müssen, wenn er sich wirklich einen Helikopter geschnappt hätte und geflüchtet wäre?
Meine Gedanken wandern zu dem verwaisten Haus der Millers an der Straße zu Murphys Laden. Dann sehe ich Barrys schmucken Bungalow in einem Vorort von Boston, dessen weiße Fassade in der Sonne blendet und dessen Rasen im Vorgarten wie ein stilles grünes Meer anmutet. Was ist, wenn dieser kleine Palast, wie ich das Haus stets zu nennen pflegte, mittlerweile genauso dem Zerfall preisgegeben ist, wie alles andere auf der Welt?
Ich will mir nicht vorstellen müssen, nie wieder Demis Kinderlachen in dem gepflegten Bungalow zu hören. Nein, der Gedanke, dass Barry seine Familie mit dem Helikopter gerettet hat und irgendwohin geflogen ist, wo vielleicht andere Menschen sind, gefällt mir besser. Deshalb versuche ich, mich an dieser Vorstellung festzuhalten.
Humphreys Worte erreichen mich längst nicht mehr.
Und auch nicht Sams unvergleichliches Klavierstück.
»Barry«, flüstere ich und starre zur Decke. Das Farbenspiel des Films tanzt über den brüchigen Verputz. »Morgen fahre ich zu den Millers und sehe nach dem Rechten.«
Ich drehe mich zur Seite und streichele Sarahs Wange.
Liegt ein Lächeln auf ihrem Gesicht?
Oder ist es nur das, was ich sehen will?
Irgendwann schließe ich die Augen und schlafe ein.
Dabei träume ich von Barry, der mich mit Humphreys altem Flugzeug abholen kommt und mit mir zu einem Ort fliegt, wo das Gras noch grün und der Himmel blau ist.
Hier ist alles nur noch grau.
Grau und tot ...
III
Als ich aufwache, ist das DVD-Gerät stumm.
Irritiert blicke ich mich um. An dem Gerät leuchtet kein Lämpchen mehr, also ist der Akku nun vollständig leer.
Durch den Spalt des Fensterladens schimmert ein hässliches Grau, das den kleinen Raum in tiefe Schatten taucht. Fast erscheint es mir, als hätte jemand schmutzige Tücher über die Möbel gehängt.
Nicht mehr lange und die Nacht würde hereinbrechen. Und in ihrem Schleier kommen jene grotesken Kreaturen, die Murphy als Ungeheuer bezeichnet und ich als Shoggothen.
Bevor der letzte Rest Tageslicht erstickt werden würde, muss ich mich um Sarah kümmern.
Wehmütig schaue ich auf den schwarzen Bildschirm des DVD-Gerätes. Noch nie zuvor hatte ich mich so sehr nach Bogarts markantem Gesicht und seinem albernen Hut gesehnt. Ich ärgere mich maßlos darüber, dass ich eingeschlafen bin. Wer kann schon sagen, wann ich mir je wieder »Casablanca« ansehen werde?
Ich küsse Sarahs kalte Wange und schlüpfe in meine Pantoffel. Kaum, dass ich dem Bett entstiegen bin, hüllt mich die Kühle des Herbstes in einen unangenehmen Mantel.
Beim DVD-Gerät bleibe ich stehen und drücke unsicher auf den Einschaltknopf. Ich weiß nicht, was ich erwarte: Sams Pianospiel zu hören, oder einen jener lächerlichen Filmküsse der vierziger Jahre zu sehen? Dennoch drücke ich wiederholt den Knopf. Doch der Bildschirm bleibt schwarz, der Akku definitiv leer.
»Humphrey ist gegangen«, flüstere ich und blicke zu Sarah.
Ihr Gesicht am Rand der Bettdecke wirkt wie ein heller Fleck im Dämmerlicht. Ich frage mich, wann wir Bogart wohl alle folgen werden, wann um uns herum alles schwarz wird und unser Akku den Geist aufgibt.
Draußen im Korridor stolpere ich fast über das Gewehr. Es muss wohl umgefallen sein, während ich geschlafen habe. Vorsichtig hebe ich es auf. Es ist seltsam. Jahrelang habe ich keinen Gedanken an die Waffe verschwendet und sie im dunklen Schrank versteckt, weit weg von Sarahs und meinem Leben. Alles schien so sicher und alltäglich, dass derartige Dinge das Letzte waren, an das man dachte. Und jetzt, da sich alles so drastisch verändert hat, wage ich es kaum, den Schaft und den Lauf zu fest anzufassen, aus Angst, ich könnte das Einzige, das noch zwischen mir und dem Wahnsinn dieser Welt steht, zerstören; als würde das Gewehr in meinen Händen zu Staub zerfallen.
Ich klemme den Schaft gegen die Schulter und ziele auf den Boden. Über die Kimme zu sehen und zu zielen, erzeugt ein gutes Gefühl in mir.
Obwohl ich nicht weiß, ob ich wirklich dazu in der Lage wäre, das Gewehr auch abzufeuern, fühle ich mich sicher. Vielleicht würde das damit zusammenhängen, was sich vor dem Lauf befindet. Dabei denke ich an Murphy und daran, dass
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