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Graues Land (German Edition)

Graues Land (German Edition)

Titel: Graues Land (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Dissieux
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dieser elende Nichtsnutz mich mit Sicherheit in zwei Hälften geschossen hätte, wenn ich nicht von seinem Parkplatz verschwunden wäre. Ich glaube nicht, dass ich zu solch einer Handlung in der Lage wäre. Dafür ist der Wahnsinn in mir noch nicht weit genug fortgeschritten. Murphy hingegen schien nahe dran zu sein, den Verstand zu verlieren. Wer von uns beiden ist wohl der glücklichere Mann in einer Welt wie dieser? Mein alter Kumpel, der sich offensichtlich ein eigenes Reich geschaffen hat und sich den aberwitzigsten Verschwörungstheorien hingibt, oder ich alter Mann, der noch immer die fragliche Fähigkeit besitzt, all die Erlebnisse der vergangenen zehn Tage mit rationalem Verstand angehen zu wollen?
    Auch wenn ich es mir nie eingestehen würde, doch tief in meinem Innern, wo die kleine Stimme haust, die mir permanent zuruft, ich solle aufgeben und mich der Stille der Welt anpassen, beneide ich Murphy.
    Ich lasse meinen Blick wohlwollend über den glatten, kalten Lauf der Waffe wandern und lehne sie dann in die Ecke direkt neben der Schlafzimmertür.
    Im selben Moment lässt mich ein Geräusch innehalten.
    Meine Hand liegt noch auf dem kalten Stahl. Angestrengt blicke ich in das schummrige Zwielicht des Korridors, an dessen Ende sich die Pfosten des Treppengeländers als graue Säulen hervorheben. Die Kerze darauf scheint ein Dolch zu sein, der in die Nacht sticht.
    Mit zu schmalen Schlitzen verengten Augen versuche ich das Dämmerlicht zu durchdringen. Ich habe aufgehört zu atmen, höre nur noch das heftige Schlagen meines alten Herzens und das Rauschen von Blut in meinen Ohren. Die Waffe endgültig loszulassen, wage ich nicht. Etwas war gegen die Küchentür geprallt, die hinaus auf die Veranda führt. Ein kurzer, dumpfer Schlag, als hätte jemand mit der Faust gegen das morsche Holz geschlagen.
    Ich starre unentwegt zur Treppe, die hinunter ins Erdgeschoss führt. In meiner Panik glaube ich schemenhafte Gestalten auf der obersten Stufe zu erkennen. Doch die Schatten verschmelzen mit dem düsteren Licht und verschwinden.
    Alles bleibt still.
    Keine Schritte, kein weiteres Schlagen gegen die Küchentür.
    Je länger ich nach vorn gebeugt vor der Schlafzimmertür stehe, meine feuchte Hand auf dem beruhigend kalten Stahl des Gewehrs liegend, desto surrealer erscheint mir die Situation. Hatte ich nicht vor ein paar Minuten noch über den beginnenden Wahnsinn bei Murphy nachgedacht?
    Plötzlich komme ich mir wie ein kleiner Junge vor, der in der Nacht durch das Knarren einer Bodendiele aufgewacht ist und zu viel Angst hat, ins Schlafzimmer seiner Eltern zu laufen. Mein Rücken beginnt zu schmerzen, meine Beine zittern. Ich richte mich auf, lasse den Lauf der Waffe los und höre das protestierende Knacken von Knochen in meinem Körper. Mein Blick bleibt jedoch auf den Treppenabsatz am Ende des Flures gerichtet: Schatten, die sich auf der obersten Stufe bewegen, sich um die Holzpfosten des Geländers winden – und wieder verschwinden.
    Ich schließe die Augen, warte auf das hölzerne Krachen der Küchentür, das Bersten von Glas, Schritte auf der Treppe, das Knarren der mittleren Stufe. Doch alles, was mich aus der zunehmenden Dämmerung anschreit, ist Stille.
    Und doch bin ich mir sicher, dass etwas auf der Veranda war. Etwas ist gegen die Küchentür geprallt. Etwas hat versucht, sie einzuschlagen.
    Das Hämmern meines Herzens lässt meinen Körper wie ein aufgezogenes Spielzeug zittern. Es ist noch nicht Nacht. Sie kommen nur im Dunkeln aus den Wäldern. Draußen ist es noch hell, wenn auch trübe und grau.
    Heißt das, sie verändern sich? Hat die Welt sich wieder weitergedreht? Ich verfluche Sie, Mr. King! Sie, und ihren verdammten Satz!
    Mit klammen Fingern greife ich zum Gewehr und fühle mich angesichts des Gewichtes sofort etwas ruhiger. Mit der Waffe im Anschlag schleiche ich auf die Treppe zu.
    Wieder glaube ich, Schatten zu erkennen.
    Doch je deutlicher sich das Geländer aus dem Grau des Flures schält, desto weniger Gestalten kann ich sehen. Ich wage es nicht, die Kerze anzuzünden. Der Lichtschein könnte mich verraten. Ein Umstand, über den ich mir in den vergangenen Tagen noch keine Gedanken gemacht habe.
    An der Treppe angelangt, spähe ich vorsichtig über das Geländer hinunter ins Erdgeschoss. Der Flur liegt im Dunkeln. Die Türen zum Wohnraum und der Küche erscheinen mir wie dunkle Portale in andere Welten.
    Keine Bewegung.
    Keine Schritte.
    Mit dem Lauf der Waffe von links nach rechts und

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