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Graues Land (German Edition)

Graues Land (German Edition)

Titel: Graues Land (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Dissieux
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Truhe und betrachte den Einband. Vorsichtig, als könnte ich die Erinnerung durch meine bloße Berührung zerstören, streiche ich mit dem Daumen über den harten Buchdeckel, der einen alten Mann in seinem Boot inmitten mannshoher Wellenkämme darstellt. Der Geruch staubiger, alter Seiten steigt mir in die Nase, und ein klein wenig bilde ich mir ein, den Geruch von Sarah an dem Buch wahrzunehmen.
    Ich lege es wieder zurück, so vorsichtig, als bestünde es aus Glas. Dann nehme ich das heraus, wofür ich überhaupt in die Kammer gekommen bin, und schließe den Deckel ohne einen weiteren Blick in die Kiste zu werfen. Zu schmerzhaft sind die Erinnerungen, die mit jeder Sekunde, die ich den Atem längst vergangener Zeiten einatme, über mich hinwegbranden.
    Das Gerät, das ich in Händen halte, habe ich nie gemocht. Es ist ein neumodisches DVD-Gerät, das mittels eines Akkus betrieben wird und für die Reise gedacht ist. Es war das letzte Geschenk unseres Sohnes, damit wir unsere Filme nicht mehr in der »unterirdischen« Qualität meines alten Videogerätes ansehen müssten, wie sich Barry auszudrücken pflegte.
    Wir haben das Gerät nie benutzt. Zum einen, weil uns der aufklappbare Bildschirm zu klein war. Und zum anderen hingen Sarah und ich an unseren altmodischen Filmen, zu deren Charakter nun mal eine »unterirdische« Qualität dazu gehörte.
    Selbst jetzt, da ich Barrys Geschenk in Händen halte und es von allen Seiten betrachte, erscheint es mir befremdlich. Ich weiß, wie man es bedient. Barry hatte sich damals die Mühe gemacht, mich in die Geheimnisse der modernen Technik einzuweihen.
    Es ist kaum zu glauben, dass ich mein plötzliches Aufblühen im Moment tatsächlich auf dieses bis dahin nutzlose Gerät richte.
    Ohne wirklich damit zu rechnen, dass der Akku nach all den Wochen in der Versenkung noch einen letzten Rest Ladung gespeichert hat, klappe ich den Bildschirm auf und drücke auf den runden Knopf, der das Gerät einschaltet. Tatsächlich leuchtet im nächsten Augenblick ein kleines grünes Lämpchen auf. Die Welle der Erleichterung, die mich in diesem Moment mit derartiger Härte trifft, dass mein alter Körper erschaudert, erschreckt mich zutiefst. Hat sich die Welt wirklich so weit gedreht, dass mich das Aufblinken eines kleinen Lämpchens derart aus der Fassung bringen kann?
    Eine DVD ist ebenfalls eingelegt. Ich erinnere mich plötzlich daran, dass uns Barry unser beider Lieblingsfilm »Casablanca« zu dem Gerät dazu geschenkt hat. Wir hatten trotzdem unsere alte Videoversion bevorzugt und Barrys Geschenk nicht den Hauch einer Chance gegeben.
    Aber die Zeiten sind andere.
    Und so nehme ich das Gerät in die eine und die Kerze in die andere Hand und schließe die kleine Kammer wieder. Unwillkürlich frage ich mich, ob ich den Raum wohl jemals wieder betreten würde. Ein weiterer Gedanke, der mich aufwühlt.
    Durch die Fensterläden fällt so viel trübes Tageslicht in die Wohnung, dass ich den Weg nach oben auch ohne eine Kerze finde. Ich puste die kleine Flamme aus und stelle die Kerze auf den Sockel des Treppengeländers, wie ich es mir zur Angewohnheit gemacht habe, damit ich die Kerzen auch im Dunkeln finden kann. Dann steige ich mit Barrys Gerät unter dem Arm die Stufen empor, wobei ich das Knarren der losen Stufe wie den Gesang der schönsten Sirenen empfinde. Dabei lächele ich zum ersten Mal seit zehn Tagen.
    II
    Sarah schläft, als ich das Zimmer betrete.
    Die Luft ist stickig und schal.
    Das graublaue Licht des Tages, das durch den schmalen Spalt zwischen den Fensterläden rinnt, taucht den Raum in farblose Schatten und verleiht ihm das Aussehen einer verstaubten Gruft. Sarah hat die Decke von sich gestreift. Ihr Körper wirkt dünn und zerbrechlich, die Haut fahl im Dämmerlicht.
    Der Anblick ist mehr, als ich im Moment ertragen kann.
    Ich stelle das DVD-Gerät auf den kleinen Tisch, gehe zu ihr und decke sie behutsam zu. Wieder fühle ich eine heiße Welle aus Scham in mir aufsteigen, weil es mir unangenehm ist, ihren abgemagerten Leib zu betrachten. Doch ich schaffe es einfach nicht, zu akzeptieren, was die Krankheit aus meiner einst lebenslustigen und fidelen Frau gemacht hat. Manchmal habe ich das Gefühl, dass von Sarah nur noch diese trostlose Hülle geblieben ist. Alles andere hat die Krankheit mit sich genommen. Ich weiß, dass diese Gedanken meiner Liebe zu Sarah nicht würdig sind, doch ich kann mich ihrer nicht erwehren und muss mich ihrer Verhöhnung willenlos

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