Graues Land (German Edition)
begleitet, steige ich Schritt für Schritt die Stiege zum Schlafzimmer empor. Die Dielen quietschen unter meinen Füßen, was mich an die eigene Treppe in der fernen Sicherheit meines Hauses erinnert.
Den Lauf des Geländers wage ich nicht zu berühren, denn ich kann blutige Handabdrücke auf dem faserigen Holz erkennen. Ob sie nun von Danny oder dem Ding Cindy stammen, vermag ich nicht zu sagen.
Mit jeder Stufe, die ich höher steige, bleibt Dannys Schluchzen weiter hinter mir zurück, bis ich schließlich wieder von tiefer, erdrückender Stille umgeben bin. Ich fühle mich wie ein Bergsteiger, dessen Luft mit jedem Höhenmeter dünner wird. Mein Herz beginnt zu rasen und ich atme mit weit geöffnetem Mund. Der Strahl der Taschenlampe wandert unstet und zitternd über den verdreckten, von Blutschlieren und Fußstapfen besudelten Boden vor mir. Der Gestank erinnert mich an Tierställe.
Als ich den Treppenabsatz erreicht habe, bleibe ich stehen und lausche in das Schweigen des Hauses, sofern es mein brüllendes Herz zulässt.
Dannys Flüstern dringt wie die Ahnung eines Windes zu mir. Sonst bleibt alles still.
Der Lichtfinger findet fast automatisch die Tür des Schlafzimmers. Das Holz wirkt dunkel und abweisend, als hätte jemand mit roter Farbe »Verschwinde« darauf gemalt. Die Spur aus Blut endet direkt davor. Ich kann das metallische Funkeln eines Schlüssels im Taschenlampenlicht sehen. Darauf schwarze Flecken.
Vorsichtig, mich nach allen Seiten hin absichernd, trete ich vor die Tür. Meine zitternde Hand legt sich auf das alte Holz, das Danny so oft hatte neu streichen wollen, es aber nie getan hat.
Ich bilde mir eine unheimliche Kälte ein, die von der Tür und dem Raum dahinter ausgeht. Mit klopfendem Herzen halte ich den Atem an, lege mein Ohr gegen das Türblatt und lausche. Etwas bewegt sich hinter der Tür. Das Rascheln von Kleidung dringt kaum hörbar nach draußen. Dazwischen zwei Schritte.
Ich nehme die Lampe, klemme sie mir unter den Arm, so dass der Lichtkegel auf die Tür fällt, und richte das Gewehr nach vorn, während ich mit der freien Hand nach dem blutverkrusteten Schlüssel greife.
Nur mit Widerwillen gelingt es mir, das kalte, klebrige Metall zu umschließen und so lautlos wie möglich den Schlüssel zu drehen. Ein kurzes Klicken zerschneidet die Stille wie eine Explosion. Ich wage mich kaum zu bewegen. Doch nichts stürzt sich von der anderen Seite gegen die Tür. Alles bleibt ruhig.
In Gedanken beginne ich bis »drei« zu zählen. Selbst meine innere Stimme klingt blechern und tonlos. Bei »fünf« gelingt es mir endlich, den Türknauf zu drehen und die Tür mit einem feinen Quietschen nach innen zu stoßen.
Sofort trete ich zwei Schritte zurück, nehme die Taschenlampe in die eine und das Gewehr in die andere Hand.
Wie ein alternder Westernstar bleibe ich breitbeinig im Flur stehen und starre auf das, was mir der matte Schein der Taschenlampe enthüllt. Dannys Worte hatten ein grauenvolles Abbild von Cindy in meinem Kopf erzeugt. Doch das, was sich wie ein bleicher Schemen nun aus der Dunkelheit schält, lässt mich an allem zweifeln, was mir je in meinem Leben als wichtig erschien. Mein Verstand wagt sich nach meinen siebzig Lebensjahren sogar in Regionen vor, die bislang für mich unantastbar erschienen. Zum ersten Mal in meinem Leben stelle ich Gott und die Lehren seiner Herrlichkeit der Schöpfungen in Frage.
In der Mitte des Zimmers steht, brutal von den gnädig verschlingenden Schatten befreit, ein Wesen, das nichts mehr mit einem Menschen gemein hat – und dennoch eindeutig als Cindy Miller zu erkennen ist.
Ihr einst volles, blondes Haar hängt in grauen, spinnwebartigen Strähnen über einen Schädel, dessen Wangen eingefallen sind. Über die hervortretenden Knochen spannt sich dünne, graue, pergamentartige Haut, die an Stein erinnert, und Cindy das Aussehen einer lange begrabenen Mumie verleiht. Ihre Augen liegen tief in diesem Totenschädel und gleichen finsteren Löchern. Das graue Fleisch ihrer Lippen ist zurückgezogen, weshalb mir Cindy ein grausames, ironisches Lächeln zu schenken scheint. Die einst makellose Gestalt ist ausgemerzt und dürr, als hätte man dem Körper binnen kürzester Zeit jegliche Flüssigkeit entzogen.
Sie steht mitten im Raum, im Rampenlicht meiner Taschenlampe – die entsetzlichste Schauspielerin, die ich je gesehen habe –, und starrt mir mit leerem Blick entgegen. Ihr Oberkörper ist nach vorn gebeugt, die Arme hängen schlaff
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