Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Graues Land (German Edition)

Graues Land (German Edition)

Titel: Graues Land (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Dissieux
Vom Netzwerk:
seinen Teller, als befürchte er, jemand könnte ihm sein Essen streitig machen.
    Demi hingegen isst langsam. Sie starrt vor sich hin und spricht kein Wort. Es tut mir in der Seele weh, mein kleines Mädchen derart leiden zu sehen. Wie schwer muss es für ein Kind sein, den Untergang der Zivilisation zu verstehen, wenn ich alter Mann selbst kaum begreifen kann, was sich außerhalb meines Hauses ereignet hat?
    Immer wenn ich Demi ansehe bin ich versucht, ihr einige aufmunternde Worte zu sagen oder ihr einfach über das Haar zu streicheln. Doch mir will nichts Passendes einfallen, das ich ihr hätte sagen können. Und sie zu berühren wage ich nicht, denn sie scheint sich in eine eigene, kindgerechte Welt zurückgezogen zu haben. Ich bin mir nicht sicher, ob ich Zutritt zu dieser Welt habe. Ob überhaupt jemand durch das eiserne, verschlossene Tor hereingelassen wird.
    Wir sitzen eine Weile schweigend da und essen. Trotz aller Umstände kommt mir unser Zusammensein gemütlich vor. Die Kerzen, die Barry am Rand des Tisches aufgestellt hat, verbreiten eine heimische, rustikale Atmosphäre.
    Mein Blick fällt auf den Teller mit Suppe, den ich für Sarah bereitet habe. Er steht etwas abseits hinter den Kerzen. Zum Abkühlen, da Sarah ihre Nahrung oftmals einfach herunterschluckt, egal wie heiß das Essen ist. Die Schmerzen will ich ihr ersparen, weshalb ich ihr den Teller nach unserer Mahlzeit bringen werde.
    Irgendwann sieht mich Barry an. Mit diesem unergründlichen, dunklen Blick, der ihn mir so fremd macht. Dann beginnt er zu erzählen, was in Boston geschehen war: »Wir waren wahrscheinlich ebenso verstört wie du gewesen, als wir eines Morgens aufwachten und nichts mehr so war wie zuvor«, beginnt er und spielt mit dem Löffel zwischen seinen Händen. »Demi war es als erstes aufgefallen. Sie kam in unser Schlafzimmer und schrie, dass die alte Mrs. Wellington mitten auf der Straße liegen würde. Es hat einige Zeit gedauert, bis ich den Schlaf abgeschüttelt hatte. Aber dann bin ich zum Fenster gegangen, das auf die Straße hinaus zeigt, habe den Rolladen hochgezogen und die alte Dame tatsächlich mitten auf der Straße liegen sehen. Ich habe sofort meinen Bademantel angezogen und bin nach draußen gerannt, während Shelley versucht hat, einen Arzt zu erreichen. Dort habe ich sie dann gesehen.«
    Der Löffel fällt Barry aus der Hand und klirrend auf den Tisch. Demi zuckt zusammen als hätte man sie geschlagen. Doch sie blickt weiterhin gedankenverloren auf ihren Teller.
    »Überall haben Leichen auf der Straße und in Vorgärten gelegen. Manche waren vollständig bekleidet. Aber die meisten trugen nur ihre Pyjamas oder Morgenmäntel. Der kleine Dennis von gegenüber lag sogar splitternackt vor seiner Haustür. Du kennst doch den Jungen von den Youngs?«
    Er sieht mir kurz in die Augen und schüttelt dann den Kopf, als wäre dieser Gedanke nur ein Ausrutscher gewesen. Natürlich erinnere ich mich an Dennis Young. Bei einem unserer früheren Besuche, als Sarah schon von ihrer Krankheit gezeichnet war, habe ich ihn zusammen mit Demi und einem anderen Mädchen auf der Straße Fahrradfahren gesehen.
    »Ich bin dann zu Mrs. Wellington und habe ihren Puls gefühlt«, fährt Barry fort. »Aber die alte Dame war tot und kalt. Sie muss die ganze Nacht auf der Straße gelegen haben.«
    Er faltet die Hände ineinander und starrt auf die Tischplatte. In seinen Augen spiegeln sich die Szenen wider, die er wahrscheinlich für den Rest seines Lebens nicht mehr vergessen wird.
    »Ich bin zurück ins Haus gerannt, wo ich Shelley mit Demi im Arm vorgefunden habe. Sie sah mich mit Entsetzen in den Augen an und sagte mir, dass unser Telefon tot sei und sie niemanden erreichen könnte. Sie hat natürlich durch das Fenster und die offene Haustür einen Blick auf die Straße vor dem Haus werfen können und fragte mich, was denn da draußen los sei.«
    Barry schüttelt den Kopf. Sein Gesicht drückt die ganze Bestürzung aus, die er wahrscheinlich auch Shelley gegenüber empfunden haben musste.
    »Ich konnte es ihr nicht sagen.«
    Eine Weile schweigt er.
    »Ich konnte es ihr nicht sagen.«
    Sein Blick fällt auf Demi, die teilnahmslos vor ihrem Teller sitzt und nur sehr langsam isst. »Demi hat in den Armen ihrer Mutter geweint und ständig gefragt, was mit Mrs. Wellington denn passiert sei. Shelley hat versucht die Kleine zu beruhigen, doch sie hat immer nur nach der alten Frau gefragt, die da in ihrem Morgenmantel mitten auf der Straße

Weitere Kostenlose Bücher