Graues Land (German Edition)
terroristischen Anschlag biblischen Ausmaßes befürchtete, wie er sich ausdrückte.« Wieder lacht Barry dieses bittere Lachen. »Aber nachdem in der Nacht diese Wesen ins Hospital kamen, waren auch die Toten verschwunden. Genauso, wie bei uns zu Hause. Wie die alte Mrs. Wellington. Wir fanden auch kein Blut oder sonstige Zeichen von Zerstörung. Hin und wieder einen umgeworfenen Infusionsständer oder ärztliches Werkzeug, das verstreut auf dem Boden lag. Aber nichts deutete darauf hin, was mit den Leichen geschehen war. Sie waren einfach weg. Verschwunden.«
Barry starrt ins Leere als betrachte er die Szenerie des verlassenen Krankenhauses noch einmal in seiner Erinnerung. Dann blickt er zur Seite, wo Demi sich mit blassem Gesicht und unstet flackernden Augen im Zimmer umsieht. Der Schein der Kerzen spiegelt sich auf gespenstische Weise in ihren Pupillen wider.
»Schatz, du siehst müde aus. Möchtest du dich vielleicht etwas hinlegen, während ich mich mit Großvater unterhalte?«
Demi nickt mechanisch, als wäre sie auf diese Frage dressiert gewesen. Mit ungelenken Bewegungen steht sie vom Tisch auf, nimmt ihren Teller und trägt ihn in die Küche. Barry nimmt seinerseits seinen Teller und das Whiskeyglas und gibt mir mit einem Kopfnicken zu verstehen, es ihm gleichzutun.
»Sie war die ganze Nacht wach«, flüstert er, während wir hinter dem Mädchen herlaufen. »Sie wollte einfach nicht schlafen. Wollte mir helfen, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Sie ist wirklich ein tapferer, kleiner Engel.«
Ich kann unverhohlenen Stolz aus Barrys Stimme heraushören. Aber auch großes Leid und eine noch größere Müdigkeit.
»Vielleicht solltest du dich auch erst einmal richtig ausschlafen«, entgegne ich und betrachte sein abgespanntes Gesicht von der Seite.
»Später«, antwortet er. »Erst will ich dir von Boston erzählen.« Er bleibt kurz stehen und starrt auf den Boden. »Und von Shelley.«
Die letzten Worte verlieren sich in einem Flüstern.
Wir gehen ins Wohnzimmer, wo sich Barry auf die Couch setzt. Alte Gewohnheiten kann man scheinbar auch in der neuen Welt nicht ablegen, denn er hat immer auf diesem Platz am äußersten Rand des Sofas gesessen. Demi krabbelt wortlos neben ihn und kuschelt sich neben ihren Vater auf die Couch, sodass ihr Kopf auf seinem Bein zum Liegen kommt. Ihre Beine sind angezogen und die Arme um die Knie geschlungen. Sie erscheint mir wie ein schutzloses Baby in einer Welt voller Monster.
Ich nehme eine Decke aus dem Schrank, schüttele sie einmal kräftig, da sie schon seit geraumer Zeit nicht mehr benutzt worden ist, und lege sie dann behutsam über das Kind. Sofort greift Demi nach dem Saum der Decke und zieht sie bis unter ihr Kinn. Dann blickt sie mit kleinen Augen zu mir empor und schenkt mir ein mattes Lächeln.
»Schlaf schön, meine Kleine«, flüstere ich und habe Schwierigkeiten durch den Kloß in meinem Hals zu atmen.
Demi schließt die Augen und nur wenige Sekunden später hebt sich ihre Brust in regelmäßigen und ruhigen Abständen. Wenigstens in der gewohnten Umgebung im Haus ihrer Großeltern scheint das Kind vor den Alpträumen dieser neuen, fürchterlichen Welt sicher.
Ich betrachte meine Enkelin einige Sekunden schweigend und frage mich, wohin das lebhafte und aufgeschlossene Mädchen verschwunden ist, das mir und Sarah an so vielen Abenden so viel Freude bereitet hat. Als sie noch kleiner war, ist sie ständig hinter ihrer Großmutter hergelaufen und hat ihr allerlei Fragen gestellt, vor allem was das Zubereiten von Speisen betraf. Sarah hatte geduldig und mit dem typischen Klischee behafteten Lächeln einer stolzen Großmutter all ihre Fragen beantwortet und mir am Abend, nachdem Demi wieder bei ihren Eltern zu Hause war, vorherzusagen versucht, dass Demi mit Sicherheit einmal eine Ausbildung im Gastronomiebereich oder Hotelgewerbe anstreben würde. Dabei habe ich das Leuchten in Sarahs Augen und den unverhohlenen Stolz auf ihre Enkeltochter in ihren Gesichtszügen erkennen können, die man wahrscheinlich nur bei einem ganz besonderen Menschen, wie Sarah es ist, finden kann.
Ich kann ihr Antlitz vor mir im Dämmerlicht erkennen. So, wie sie einmal gewesen ist, bevor die Krankheit sie sich geholt hat. Fast bin ich versucht, meine Hand nach ihrem Gesicht auszustrecken, ihre feinen und warmen Züge zu streicheln und ihr trotz ihres Alters immer noch leuchtendes Haar zu berühren.
Doch ich verdränge das Bild und bin entsetzt darüber, wie leicht es mir
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