Graues Land (German Edition)
Barry, der wiederum mein Innenleben zu erkennen scheint, kommt zu mir und legt seinen Arm um meine Schulter. Die Berührung tut gut. Zum ersten Mal, seit wir über eine Fahrt nach Devon gesprochen haben, spüre ich wieder so etwas wie menschliche Wärme. Als ich zu ihm aufblicke, sehe ich den Widerschein der Kerzen in seinen Augen.
»Die Zeiten sind andere, Dad«, flüstert er gerade so laut, dass ich es verstehen kann.
»Demi ist kein Kind mehr. Auch wenn sie erst zwölf ist. Sie hat ihre Mutter sterben sehen.«
Barry schließt für einen Moment die Augen, als versuche er aufkommende Erinnerungen zurückzudrängen.
»Dort, auf dem Dach des Hospitals, hat Demi ihre Kindheit zurückgelassen«, fährt er dann noch leiser fort. »Ein Blick in ihre Augen verrät dir, dass sie sich in dem Moment, in dem ihre Mutter gestorben ist, verändert hat. Aber ich glaube, tief in ihrem Innern ist sie immer noch dein kleines Mädchen.«
Barry zieht mich fester an sich. Er riecht nach Schweiß und Whiskey.
»Aber dein kleines Mädchen versteckt sich. Im Moment brauchen wir Demi an der Waffe. Kannst du das verstehen?«
Wieder geht mir eine Flut von Antworten durch den Kopf, die ich Barry nur zu gerne entgegengeschrien hätte. Genauso wie eben, als er den Vorschlag mit Devon unterbreitet hatte. Doch anstatt all meine Angst und Wut herauszubrüllen, nicke ich nur und nehme meinerseits Barry in den Arm.
Eine Zeitlang stehen wir so da, ohne dass einer etwas sagt. Wie zwei Liebende, die sich auch ohne Worte verstehen. Als wir uns voneinander lösen und die Kälte in mir zurückkehrt, packt mich Barry an beiden Schultern und sieht mich an. Ich kann sehen, dass seine Augen feucht glitzern.
»Ich schlage vor, du startest den Wagen. Ich gehe zum Hubschrauber und hole unsere Waffen.«
Ich ergreife Barrys Unterarm und schüttele den Kopf.
»Lass mich noch kurz mit Sarah reden, okay?«
Er senkt den Blick und scheint zu überlegen. Dann nickt er und schenkt mir ein Lächeln, das mich an die unzähligen Abende mit Shelley und Sarah in genau diesem Raum erinnert.
»Vergiss bitte nicht, dass wir vor Anbruch der Dunkelheit zurück sein müssen.«
»Das brauchst du mir nicht zu sagen.«
Ich löse mich von Barry, gehe zu Murphy und drücke kurz seinen Oberarm. Er ist so verdammt dünn geworden, mein Freund, denke ich traurig. Dann nehme ich eine der Kerzen und gehe langsam die Treppe zum Schlafzimmer hinauf. Die mittlere Stufe knarrt ihr fast verlorengegangenes Lied, während die Kälte in mir einer düsteren Leere weicht.
VI
Der Raum wird von einer einzelnen Kerze erhellt. Jene, die ich immer auf dem Tisch am Fußende des Bettes stehen habe, damit Sarah nicht Tag und Nacht in völliger Dunkelheit liegt, ist abgebrannt und erloschen. Einzig Demis Kerze, die in einem altmodischen Messingleuchter steckt, verbreitet ein diffuses Licht.
Sarah und meine Enkelin sind nur als düstere Schemen zu erkennen. Als ich das Zimmer betrete, blickt einer der Schatten zu mir auf. Der andere regt sich nicht.
Ich stelle meine Kerze neben die Erloschene auf den kleinen Holztisch und nähere mich vorsichtig dem Bett. Demi sitzt auf der Kante neben ihrer Großmutter und hält deren Hand. Selbst zwischen den Fingern eines Kindes wirkt Sarahs Hand zerbrechlich. Ihre Haut schimmert gespenstisch weiß im flackernden Kerzenlicht.
Vorsichtig setze ich mich hinter Demi, so dass ich Sarah über die Schulter meiner Enkelin hinweg ansehen kann. Mir scheint, dass jede unbedachte Bewegung diesen heiligen Moment entweihen könnte.
Einige Zeit sitzen wir schweigend da. Ich betrachte abwechselnd Sarahs schlafendes, wächsernes Gesicht und die kraftlos gebeugte Gestalt meiner Enkelin. Dreikäsehoch habe ich sie genannt, denke ich und muss erneut den Zorn auf alles, was für diese neue Welt Verantwortung trägt, unterdrücken.
Nach unendlich langer Zeit dreht sich Demi zu mir um und sieht mich mit traurigen Augen an. Ich spüre, wie irgendetwas in meinem Herzen zerbricht. Als ich meinen Blick zu Boden senke, kann ich kaum atmen.
»Glaubst du, sie weiß, was passiert ist?«
Aus dem Körper des Kindes spricht die Stimme einer alten Frau. Ihre Finger spielen nervös miteinander. Es sind die ersten klaren Worte, die Demi spricht, seit sie hier ist. Doch der Klang ihrer Stimme und die schreiende Trauer darin erschrecken mich. Langsam schüttele ich den Kopf.
»Nein, Kleines. Für deine Großmutter ist alles noch so, wie es war.«
Demi scheint über meine Worte
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