Graues Land (German Edition)
Stöhnen. Oder ist es ein Flüstern? Ein Lächeln zieht sich über mein Gesicht als ich mir vorstelle, dass sie meinen Namen flüstert. So, wie in den vielen Nächten unserer Vergangenheit, wenn wir Arm in Arm im Dunkeln gelegen haben und mich ihr sanfter Atem im Ohr kitzelte.
»Ich werde nach Devon gehen«, flüstere ich mit belegter Stimme. »Etwas zu Essen besorgen. Und Medikamente.«
Sarah reagiert nicht. Ihre Augen bewegen sich unstet hinter ihren geschlossenen Lidern.
Ich frage mich, was sie gerade sieht.
»Barry und Demi sind auch hier.«
Als ich ihre Hand ergreife, stöhnt sie erneut.
»Demi war eben bei dir gewesen. Du hast sie sicher gesehen.« Ein kurzes Lachen entsteigt meiner Kehle. »Sie hat mich gebeten, ihr etwas zum Lesen aus der Stadt mitzubringen. Du weißt ja, was sie für eine Leseratte ist.«
Sarahs Lippen bewegen sich, als versucht sie Worte zu formen. Ich halte inne und beuge mich zu ihr herunter. Doch nur ein raues Kratzen ist in ihrer Kehle zu hören. Der Geruch ihres Atems ist sauer.
»Vielleicht schaffe ich es, ein neues DVD-Gerät zu besorgen«, fahre ich schließlich enttäuscht fort. »Dann können wir uns am Abend wieder Humphrey ansehen.«
Mein Blick fällt unwillkürlich zu dem schwarzen Bildschirm des kleinen Gerätes, das mir Barry zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Humphrey war fort. Und mit ihm der Spaß, den wir beide stets mit ihm hatten.
Plötzlich sehne ich mich nach einer heißen Tasse Tee und der ruhigen Stimme von Humphrey. Und natürlich dem unbeschreiblichen Gefühl, wenn ich mein Mädchen im Arm gehalten hatte. Zwei Tage ist es erst her, dass Sam sein Lied zum letzten Mal in der kleinen Bar gespielt hat.
»Ich werde unseren alten Freund mitbringen«, flüstere ich und kann mich meiner Tränen nicht erwehren. »Das verspreche ich dir. Dann werden wir Tee trinken und uns bei Kerzenschein den alten Schinken noch einmal ansehen. So, wie es früher war.«
Ein Schluchzen bahnt sich seinen Weg durch meine Kehle. Durch den von Tränen verschleierten Blick bilde ich mir ein, ein Lächeln auf Sarahs Gesicht zu sehen. Ich kann sogar ihre Stimme hören. So wie damals, wenn sie mir meinen Namen ins Ohr geflüstert hat.
Doch als ich meine Tränen wegwische, liegt Sarah still da. Ihre Augen bewegen sich immer noch hinter den Lidern. Und ihre Brust hebt sich in regelmäßigen, wenn auch schwachen Abständen.
»Demi wird auf dich aufpassen, während ich mit Barry nach Devon fahre. Sie ist groß geworden.«
Erwachsen, möchte ich sagen. Doch mir graut vor diesem Wort.
»Murphy ist auch hier. Dir wird nichts geschehen. Und noch ehe du bis drei zählen kannst, bin ich wieder bei dir.«
Ich lächele und nicke, als müsse ich mir meine eigenen Lügen bestätigen. Dann nehme ich ihre Hand in meine, beuge mich zu ihr herab und hauche ihr einen Kuss auf die Wange.
»Ich liebe dich.«
Diesmal bin ich sicher, dass ich ihr Flüstern hören kann. Als ich mir ihre gebrechliche Hand gegen die Wange drücke, schließe ich die Augen und sauge ihre Berührung in mich auf. Irgendetwas in meinem Herzen sagt mir, dass es die letzte Berührung sein würde.
Ich stehe auf, betrachte ein letztes Mal die bleiche Gestalt auf dem Bett und will gerade nach der Kerze greifen, als ich inne halte. Es ist die einzige Kerze, die im Zimmer noch brennt. Und so gehe ich mit schweren Schritten und schreiendem Herzen im Dunkeln hinunter ins Wohnzimmer.
VII
Unser Aufbruch ins Ungewisse läuft wie ein alter Stummfilm vor mir ab. Die Bilder bewegen sich viel zu schnell, und eine merkwürdige Stille erfüllt meine Welt.
Barry und Murphy reden mit mir. Doch ich kann nur ihre Lippen sehen, wie sie sich bewegen, sowie ihre Augen, die mich fragend ansehen. Ich glaube, dass ich ihre Fragen sogar beantworte. Doch scheinen die Worte nicht aus meinem Mund zu kommen.
Etwas hält mich mit eisigen Klauen gefangen. Ich weiß nicht, ob es lähmendes Entsetzen ist, da mir nur zu gut bewusst ist, dass wir im Begriff sind, in eine Geisterstadt zu fahren, in der vielleicht Schlimmeres auf uns lauert als nur Geister. Oder aber die stechende Gewissheit, dass wir einen gewaltigen Fehler begehen.
So nötig unsere Fahrt nach Devon auch erscheinen mag, um unsere Vorräte aufzufüllen und Medikamente für den Notfall zu bunkern, so sicher bin ich mir aber auch, dass Barry und ich geradewegs in unser Verderben fahren.
Hatte ich mich wirklich gerade von meiner Sarah verabschiedet?
Die Frage geistert wie eisiger Nebel
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