Graues Land (German Edition)
der Entfernung kann ich sehen, wie das Mädchen die Lippen bewegt. Ich weiß genau, was sie sagt. Obwohl ich ihre Stimme nicht hören kann, schneiden ihre Worte wie die glühende Klinge eines Dolchs in meinen Körper.
Dann ist sie verschwunden und das finstere Schaufenster einer Eisenwarenhandlung zieht in schweigender Würde an uns vorüber. Mit klopfendem Herzen beuge ich mich nach vorne und sehe in den Seitenspiegel. Doch das leere Grundstück ist lediglich als heller Streifen auf dem Asphalt zu erkennen.
Mein Blick fällt auf Barry, der mit verkniffenem Gesichtsausdruck durch die mit Fliegen verklebte Scheibe starrt. Er scheint alle emotionalen Momente ausblenden zu wollen, denn seine Augen und sein Mund sind ein beängstigender Ausdruck der Abwesenheit.Ich frage mich, ob er das Mädchen ebenfalls gesehen hat. Falls ja, lässt er es sich nicht anmerken.
Trotz der Kühle im Wagen spüre ich einen Schweißfilm auf der Stirn. Mit einer fahrigen Handbewegung wische ich ihn weg und lasse meine Hand auf meinen Augen liegen. Durch die Berührung spüre ich eine tiefe Müdigkeit hinter meinen Lidern.
Während ich die Augen geschlossen halte, versuche ich meinen Herzschlag wieder zu beruhigen.
Das Mädchen war etwa in Demis Alter, denke ich. Und dann fällt mir Barrys Erzählung von Boston ein. Ich denke an seine Worte über Alicia, jene Überlebende, die er in den Trümmern der Stadt gefunden hatte und die wie Cindy gewesen war. Barrys Worte klingen mir noch mit all ihrer Scheußlichkeit in den Ohren, als er unter Tränen erzählte, was aus Alicia letzten Endes geworden und zu was sie fähig gewesen war.
Würde das Mädchen genauso werden?
Ging man nach Barrys Erzählung, so verwandeln sich die von den Shoggothen Infizierten nach einiger Zeit selbst in eine blutrünstige, unmenschliche Kreatur. Genauso würde es Cindy Miller eines Tages ergehen, auch wenn sie, eingesperrt in ihrem Schlafzimmer, keine Nahrung finden würde.
Doch was war mit dem Mädchen? Sie läuft frei in Devon herum. Würde sie in den Nächten auf Jagd gehen? Auch wenn sie in der Stadt keine Beute mehr finden kann, so gibt es mit Sicherheit noch Wild und anderes Getier, das sie jagen kann. Und wenn sie Hunger auf etwas Größeres, Nahrhafteres bekommt? Mit Schaudern stelle ich mir vor, wie sich das Mädchen in der Hoffnung auf Beute in die Hügel schleicht. Und wie sie sich meinem Haus nähert. Wahrscheinlich können sie ihre Beute sogar riechen. Sie würde Sarah und mich riechen und sich im Mantel der Nacht an das Haus schleichen und ...
Ein Holpern reißt mich aus meinem Alptraum. Als ich die Augen öffne, sehe ich, wie Barry den Pick-up auf den großen Parkplatz vor `Tenberries´ lenkt. Ein einzelner Wagen steht unter einem der jungen, frisch angepflanzten Bäume. Ansonsten ist der Platz verwaist.
»Ich schlage vor, ich fahre rückwärts an die Eingangstür und blockiere dadurch mit dem Wagen den Zugang für ...«
Barry muss nicht weitersprechen. Ich nicke nur und versuche verzweifelt meine Gedanken zu beruhigen. Das schreckliche Abbild des Mädchens hat sich wie eine blinkende Neonreklame in mein Gehirn gebrannt.
»Ist alles in Ordnung?«
Barry hat den Wagen angehalten und sieht mich besorgt an. Für den Bruchteil einer Sekunde spiele ich mit dem Gedanken, ihm von dem Mädchen auf dem unbebauten Grundstück zu erzählen. Doch dann kommt mir wieder Alicia in den Sinn und ich nicke mit einem bitteren Lächeln.
»Alles okay. Das Ganze geht nur etwas an die Substanz.«
Barrys Lippen verwandeln sich wieder in eine dünne Linie. »Nicht nur dir. Lass es uns hinter uns bringen. Und dann vergessen wir am besten alles, was wir in Devon gesehen haben?«
Ich sehe ihn an und frage mich, ob er das Mädchen vielleicht doch aus den Augenwinkeln heraus bemerkt hat. Doch ehe ich näher darüber nachdenken kann, fährt Barry auch schon auf den Eingang des Supermarktes zu, wendet und stößt rückwärts gegen den Eingang. Erst einen knappen Meter vor den Glastüren hält er den Wagen an.
»Wir stellen den Motor ab. Sonst blasen wir den ganzen Dreck in den Laden. Und wir würden eventuelle Geräusche nicht mitbekommen.«
Barrys Stimme klingt bestimmt. Und voller Furcht. Als er den Motor abstellt, stottert der Wagen noch einmal kurz. Dann wälzt sich eine gewaltige Welle der Stille über die Dächer und Straßen und begräbt alles unter sich. Wir sitzen wie geprügelte Hunde im Wagen und sehen uns mit hektischen Blicken nach allen Seiten um. Es dauert
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