Grauzone: Der 13. Fall für August Häberle (German Edition)
der vergangenen Tage
geblättert hatte, kamen ihr diese Gespräche in Erinnerung.
Weshalb
hatte sie sich beim Durchblättern überhaupt für die illustrierte Wochenbeilage
interessiert, die aus der zusammengefalteten Samstagsausgabe des
›Tages-Anzeigers‹ gefallen war? Noch heute erschien ihr dies rätselhaft.
Während
sie das halbformatige Magazin flüchtig aufschlug, stach ihr auf einer der
linken Seiten etwas ins Auge, das sie förmlich elektrisierte. Formatfüllend und
unübersehbar: Ein schwarzes Gebetbuch, das eine große Reisebüro-Gesellschaft als
Werbegag missbraucht hatte. Der Text, der auf einem knallroten Lesezeichen in
weißen Lettern prangte, sollte die Sicherheit der beworbenen Airlines
hervorheben. »Empfohlene Reise-Lektüre für alle, die noch billiger fliegen
wollen.«
Wie
gebannt hatte sie auf dieses Inserat gestarrt und den Text immer wieder
gelesen. Erst als sie die Wochenendbeilage ›Magazin‹ wieder in die
zusammengefaltete Zeitung schob, entdeckte sie dort auf Seite 1 des
›Tages-Anzeigers‹ einen Hinweis, mit dem sich die Redaktion für das makabre
Zusammentreffen von Absturz und Anzeige entschuldigte:
»Angesichts
des schweren Flugzeugunglücks der Swissair vom Donnerstag hat ein Reiseinserat
im heute beiliegenden ›Magazin‹ eine Aktualität erlangt, die in keiner Weise
beabsichtigt war. Das Inserat ließ sich nicht mehr zurückziehen, weil das
›Magazin‹ zum Zeitpunkt des Absturzes bereits gedruckt war.« Weiter hieß es,
Verlag, Reisebüro und die zuständige Werbeagentur entschuldigten sich »für den
tragischen Zufall und damit verbundene verletzte Gefühle in aller Form.«
Du sollst den Herrn, deinen
Gott nicht versuchen – so oder so ähnlich hatte sie in Erinnerung, was sie einmal im
Religionsunterricht gelernt hatte. Und noch immer quälte sie ein Gedanke, der
sie seit dem ersten Moment, als sie dieses Inserat gelesen hatte, nicht mehr
losließ: War Mario das Opfer einer Vergeltung dieser großen universellen Kraft
geworden, die sich nicht so einfach herausfordern ließ, wie dies die
Werbestrategen mit diesem Inserat beabsichtigt hatten?
Natürlich
hatte Karin es nie gewagt, mit jemandem aus ihrem damaligen Freundes- und
Bekanntenkreis darüber zu reden. Es wäre nicht schick gewesen, sich in dieser
angeblich gehobenen Gesellschaft mit Themen auseinanderzusetzen, die weit
jenseits dessen lagen, was man mit Geld erkaufen konnte. Vermutlich hätte man
sie ausgelacht, bestenfalls noch vornehm als Esoterikerin abgetan, aber
insgeheim als okkulte Spinnerin bezeichnet, die ohne die Kontakte ihres
verstorbenen Mannes ohnehin nicht mehr gesellschaftsfähig erschien. Schon nach
wenigen Wochen war ihr deutlich geworden, dass die angeblichen Freundschaften
nur Zweckverbände waren, die lediglich ein einziges Ziel verfolgten: Dezente
Vermehrung des privaten Vermögens durch ebenso dezente gegenseitige Vernetzung.
Bisweilen gerieten auf diese Weise auch Entscheidungsträger aus Wirtschaft und
Politik in den Genuss von Zuwendungen, die diese zu würdigen wussten – vor
allem aber auch in Form von Gefälligkeiten zu honorieren verstanden.
Karin
spürte, wie sie ohne Mario zunehmend unwichtig wurde. Wäre sie noch 20 Jahre
jünger gewesen, hätte sie gewiss nicht das Gefühl beschlichen, von den gut
situierten Herren des Geldadels unbeachtet zu bleiben. So aber fühlte sie sich
bei jeder dieser Partys, zu denen sie gelegentlich noch eingeladen wurde, als
eine überflüssige, wohl eher geduldete Person, mit der man aus Pflichtgefühl
ein paar Worte wechselte. Hingegen waren die jungen Frauen, die mit ihren
geschniegelten und angeblich so erfolgreichen Typen in Erscheinung traten und
meist viel Haut zur Schau trugen, begehrte Gesprächspartnerinnen. Nur Dirk
Jensen, ein Kollege Marios aus früheren Zeiten, hatte den Kontakt noch gehalten
und ihr sogar neue Perspektiven eröffnet. Sie war ihm dafür unendlich dankbar
gewesen. Damals. Inzwischen gab es einen schalen Beigeschmack. Immer häufiger
musste sie daran denken, weshalb er damals den Abflug in New York verpasst
hatte.
Irgendwann – Karin
wusste nicht mehr so genau, wann dies geschehen war – hatte
sie sich vollständig zurückgezogen. Zugegeben, ihr war es schwergefallen, das
soziale Umfeld zu verlassen, dem finanziell sicheren Terrain der Schweiz den
Rücken zu kehren und wieder zu den Wurzeln ihrer Familie nach Süddeutschland
zurückzukehren. Aber ohne Mario fühlte sie sich im Großraum Zürich als Fremde.
Viel
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