Grauzone: Der 13. Fall für August Häberle (German Edition)
der
als Vorrats- und Rumpelkammer diente. Hier lagerten in einem schmalen Regal
auch die Bücher, mit denen sie sich bei ihren Treffen auseinandersetzten.
Diesmal wollten sie sich mit den letzten Seiten der Bibel befassen. Den
Ausschlag dafür hatte der Maya-Kalender gegeben, der angeblich am 21. Dezember
2012 endete, was gewisse Kreise seit Monaten zum Anlass nahmen, ein
Weltuntergangsszenario herbeizureden und daraus sogar Kapital zu schlagen. Es
gab genügend skrupellose Geschäftemacher, die mit der Angst der Menschen
spielten.
Doch
dass solche Szenarien nur gesteuerte Panikmache waren, darüber hatte Josefina
mit allen, die sich regelmäßig in den Internet-Foren trafen, eifrig diskutiert.
Trotzdem wollten sie es jetzt zum Thema ihres Treffens machen. Denn falls es
tatsächlich so war, dass es für alles, was geschah, Signale und Vorzeichen gab,
die es zu erkennen und zu deuten galt, dann konnte es in alten Schriften und
Überlieferungen durchaus auch Botschaften geben, die Hinweise auf das Ende der
Welt enthielten.
Josefina
nahm die abgegriffene Bibel aus dem Regal und legte sie im großen Zimmer auf
einen breiten hölzernen Fenstersims.
Dabei
bemerkte sie eine Person, die sich jetzt auf dem Pfad näherte. Doch es war
nicht Karin. Sondern ein Mann.
15
Dass zu dieser Morgenstunde
bereits jemand mit der Seilbahn ins Tal zurückfuhr, kam höchst selten vor. Der
Mann, der an der Talstation der Neunerköpfle-Umlaufbahn hinter einer dicken
Glasscheibe saß und gelegentlich einen Blick auf die langsam vorbeiziehenden
sechssitzigen Gondeln warf, die zum Ein- und Aussteigen aus dem Seil geklinkt
wurden, stutzte. In einer dieser von oben herangeschwebten gelben Kabinen saß – mit
dem Rücken zur Fahrtrichtung – eine Frau, die ihren lockigen
Kopf schräg nach hinten gelehnt hatte und offenbar schlafend zusammengesunken
war.
Der
Angestellte der Seilbahngesellschaft – ein junger,
drahtiger Mann mit Vollbart – sprang auf und verließ seinen
Beobachtungsposten. Mit wenigen Schritten hatte er die ankommende Kabine
erreicht. Sie bewegte sich im Schneckentempo um die Plattform herum, während
automatisch die Tür geöffnet wurde. Dies war normalerweise der Moment, in dem
die Passagiere aufstanden. Doch die Frau blieb regungslos sitzen. Der Mann
zögerte nicht mehr länger, sondern ging der Gondel entgegen, die bereits den
Umkehrpunkt erreicht hatte, um ruckelnd zur Einstiegstelle herüber gebracht zu
werden. Als der Seilbahn-Angestellte durch die geöffnete Kabinentür in die
Gondel hineinsehen konnte, bestand für ihn kein Zweifel mehr: Die Frau war
offenbar bewusstlos geworden, ihr Gesicht seltsam bläulich-weiß. Mit zwei
schnellen Schritten gelangte er in die Kabine, die leicht zu schaukeln begann,
fasste die Dame an den Oberarmen – zuerst
sanft, dann kräftiger – und schrie: »Hallo, hallo, hören Sie mich?« Keine Regung. Ihr
Körper fühlte sich an, als sei alles Leben aus ihm gewichen. Der Mann ließ von
ihr ab, verließ hastig die wippende Gondel, um das automatische Schließen der
Tür nicht zu verpassen, und rannte zu den technischen Einrichtungen. Dort
brachte er mit einem einzigen Knopfdruck die gesamte Anlage zum Stillstand.
Augenblicklich verstummte das dumpfe Brummen der Elektromotoren und hörten die
großen Seilführungsräder auf, sich zu drehen. Der Mann drückte weitere Tasten
und löste damit einen Notfall-Alarm aus. Dann eilte er die paar Meter zu der
Gondel zurück, um die herum sich inzwischen eine mehrköpfige Wandergruppe
geschart hatte und neugierige Blicke auf die zusammengesunkene Frau warf. »Ist
ein Arzt hier?«, fragte der Seilbahn-Angestellte aufgeregt in die Runde, ohne
allerdings eine Antwort zu erhalten. Er hastete wieder in die Gondel, um am
schlaffen Handgelenk der Frau den Puls zu fühlen. Doch da war nichts mehr. Ihr
Oberkörper kippte zur Seite, ihre Augen waren weit geöffnet und starr.
16
Es war Dirk Jensen, der da des
Wegs kam. Josefina erkannte ihn an seinem federnden Gang und der schlanken
Figur. Vielleicht lag dies daran, dass Dirk für seine 54 Jahre überaus
sportlich war und sich in jeder freien Minute aufs Fahrrad schwang oder durch
die Wälder joggte. Vermutlich hatte er auch diesmal nicht die Seilbahn
genommen, sondern war bereits vor Sonnenaufgang im Tal losgewandert.
Josefina
ging zum Vorplatz der Hütte hinaus und winkte ihm zu. Dirk beschleunigte
daraufhin seine Schritte und war wenig später bei ihr. »Bin ich womöglich heute
der Erste?«,
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