Grauzone: Der 13. Fall für August Häberle (German Edition)
bewog sie, auf diesen Pool
hinabzusehen, in dem außer ihm und dem Rentner-Ehepaar doch niemand mehr war?
Mullingers
Augen waren fest auf ihr Gesicht fixiert, in dem ihm erst jetzt eine randlose
Brille auffiel. Die Frau starrte ihn regunglos an. Sie wirkte kühl und
abweisend, arrogant und beinahe gefährlich.
Mullinger hatte plötzlich das Gefühl, sie schon einmal
irgendwo gesehen zu haben, vermied es aber, sie wie ein faszinierter Teenager
anzustarren. Er wandte sich ab und wollte mit kraftvollen Schwimmzügen das
Becken durchqueren, wobei er jedoch beinahe mit dem Rentner-Ehepaar
zusammengestoßen wäre. Der betagte Herr, dessen kahlen Kopf nur ein schmaler
Haarkranz zierte, wich aus und folgte ihm vollends bis zu den gefliesten
Stufen, die vom Wasser umspült wurden. Während Mullinger bereits nach dem
Geländer griff, um sich einen sicheren Stand zu verschaffen, hörte er hinter
sich eine sonore Männerstimme: »Gehören Sie auch zu denen, die sich auf den
Weltuntergang vorbereiten?«
Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten fühlte sich der
junge Mann in seinem Innersten getroffen. Er kam sich wie ein Schuljunge vor,
den der Lehrer bei einem üblen Streich erwischt hatte. So, als ob er etwas
furchtbar Verbotenes getan hätte. Mullinger wusste in diesem Moment nicht, ob
er lauthals hinausbrüllen sollte, dass er erwachsen sei und tun und lassen
konnte, was er wollte, oder ob es besser war, einfach wegzulaufen. Was, zum
Teufel, ging hier vor? Er entschied sich, diesen neugierigen Frager einfach zu
ignorieren. Mullinger sprang mit einem Satz aus dem Wasser.
14
Es war ein Morgen in den Bergen
wie aus dem Bilderbuch: Die Gipfel in sanften Hochnebel gehüllt, das spärliche
Gras vom Tau benetzt. Die Sonne stand noch nicht sehr hoch am Horizont, sodass
die Bergmassive lange Schatten warfen. Josefina Hallmoser kümmerte es nicht,
dass die Temperatur in der Nacht auf zwölf Grad gesunken war. Sie hatte in
ihrer urigen, von Wind und Wetter gezeichneten Holzhütte unweit des
Neunerköpfles am Südosthang des Vogelhorns genächtigt und diese alles
umfassende Stille, die bis in die Unendlichkeit des Weltalls hinaus reichte, in
sich aufgenommen. Diese friedliche Ruhe machte sich breit, sobald am späten
Nachmittag die Gondeln der Seilbahn stillstanden. Und mit dem Sonnenuntergang
verstummten auch die schwarzen Bergdohlen, die mit krähenden Lockrufen um die
Hänge kreisten und sich von der Thermik tragen ließen.
Schon
oft war die Hüttenbesitzerin gefragt worden, ob es ihr denn nicht zu einsam
oder gar unheimlich sei, hier oben allein die Nächte zu verbringen. Regelmäßig
antwortete sie dann mit einem entschlossenen »Nein«, um dann hinzuzufügen:
»Hier oben ist die Welt noch in Ordnung.« Zwar verriegelte sie die hölzerne
Eingangstür mit zwei Schlössern, aber wenn es jemand auf einen Einbruch
abgesehen hätte, gäbe es genügend Schwachstellen. Außerdem wäre sie bei einem
Angriff völlig auf sich allein gestellt. Ein Handy-Funknetz gab es nur am
Steilhang ein paar Meter oberhalb der Hütte, so dass sie nicht jederzeit ihren
Mann rufen konnte, der sich drunten im Tal um die Landwirtschaft kümmern
musste. Und auch wenn sie ihn schnell erreichen würde, wären er oder die
Polizei ziemlich lange unterwegs, bis sie bei Nacht und Nebel über die schmalen
und kurvenreichen Wege einträfen. Im äußersten Notfall käme vermutlich ein
Hubschrauber, vorausgesetzt, das Wetter ließe einen Sichtflug zu.
Josefina,
vor 56 Jahren im nahen Reutte in Tirol geboren, fürchtete aber weder die
Naturgewalten, noch Gesindel, das sich glücklicherweise ohnehin nur selten in diese
Höhen verirrte. Ihr tiefer Glaube an Gott und ihr unerschütterliches Vertrauen
an die schützenden Engel gaben ihr in jeder noch so schlimmen Situation inneren
Halt und Zuversicht.
Daraus
schöpfte sie auch die Kraft, sich notfalls couragiert und selbstbewusst zur
Wehr setzen zu können. Bereits in ihrer Jugendzeit hatte sie in der
Landwirtschaft ihrer Eltern hart arbeiten müssen und gelernt, energisch
zuzupacken. Als einigen der wenigen Bauern war es ihr und ihrem Mann gelungen,
den landwirtschaftlichen Betrieb zu vergrößern und somit den EU-Richtlinien
gerecht zu werden. Nur wer dies geschafft hatte, war für die Zukunft gerüstet.
Alle anderen konnten sich noch so sehr abrackern, sie kamen – politisch gewollt – finanziell auf keinen grünen Zweig mehr.
Dass
sie noch diese Almhütte besaßen, obwohl eine solche Einrichtung heutzutage
Weitere Kostenlose Bücher