Grave Mercy Die Novizin des Todes
fertig ist, macht er eine kurze, förmliche Verbeugung. »Ich werde Euch allein lassen, damit Ihr Euch fassen könnt.« Seine Förmlichkeit ist gleichzeitig quälend und erleichternd für mich. »Kommt in mein Arbeitszimmer, wenn Ihr so weit seid.«
Ich nicke – denn ich traue meiner Stimme immer noch nicht –, und er verlässt den Raum. Ich bin wunderbarerweise allein. Obwohl ich voll bekleidet bin, fühlt sich meine Haut nackt und entblößt an. Empfindlich, wie die neue Haut unter einer Blase, die aufgerissen ist. Noch während ein Kichern droht, meine Kehle hinaufzusteigen, bilden sich in meinen Augen Tränen. Was für ein Wahnsinn ist das? Irgendetwas hat sich verändert – etwas Dunkles und Erschreckendes steht jetzt zwischen uns.
Als ich endlich ruhig genug bin, verlasse ich Duvals Privatgemach und mache mich auf die Suche nach seinem Arbeitszimmer. Es ist nicht schwer zu finden, da man ihm nur eine Handvoll Räume hier im Palast zugewiesen hat. In der Tür halte ich inne. Er sitzt brütend vor seinem Schachbrett. »Gnädiger Herr?«, frage ich leise.
Er hebt den Kopf, und sein Gesicht entspannt sich ein wenig. »Da seid Ihr ja.«
Ich erröte und versuche, so zu tun, als hätte ich nicht fast eine Stunde gebraucht, um zu meiner normalen Fassung zurückzufinden. Unbehaglich zupfe ich an den silbernen Fäden, die in meinen Rock eingestickt sind, während ich zu seinem Schachbrett gehe. »Wo stehen wir?« Ich brenne darauf, über Strategien und Taktiken zu sprechen, über die Anzahl unserer Anhänger – alles, nur nicht über das, was soeben geschehen ist.
»Das ist es, was ich herauszufinden versuche.«
Die weiße Königin steht mit nur noch einer Handvoll weißer Steine um sich herum zahlreichen schwarzen Spielfiguren gegenüber. »Irgendjemand aus dem Rat hat Nemours’ Wachposten bestochen oder jemand anderem den Auftrag dazu gegeben.« Duvals Finger liegen leicht auf der Königin. Ich schaudere bei der Erinnerung an das Gefühl dieser Finger auf meiner Wange, den Druck seiner Hand auf meinem Hals. Es sind starke, tüchtige Finger, und doch hat er mein Gesicht so sanft gehalten.
Verärgert schüttele ich diese Gefühle ab, die mich zu überwältigen drohen. »Madame Dinan könnte sich ohne Weiteres d ’ Albret anvertraut haben«, stelle ich fest.
»Das ist richtig, aber sie sind unsere einzigen bekannten Feinde. Größere Sorgen machen mir diejenigen, die wir nicht kennen. Hat Frankreich jemanden aus dem Kronrat gekauft, und wenn ja, wen?«
»Warum sollte irgendjemand aus dem Rat wollen, dass die Franzosen Bescheid wissen?«
»Das ist die Frage, nicht wahr? Das und welches ihr nächster Schritt sein wird.«
»Welches ist unser nächster Schritt?«, frage ich. »Was ist die zweitbeste Möglichkeit der Herzogin, jetzt, da Nemours aus dem Spiel ist?«
Duval antwortet, ohne zu zögern. »Der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches.«
»Dann wäre vielleicht ein Besuch bei seinem Gesandten angebracht«, schlage ich vor.
»Offensichtlich.«
Duval denkt noch einen Moment nach. Als er den Blick vom Schachbrett hebt, sehe ich, wie müde er ist. »Die Bestie braucht Hilfe beim Saubermachen. Ich habe mir die Freiheit genommen, Anweisung zu erteilen, dass man ein Tablett mit Eurem Abendessen in Euer Zimmer bringt, damit Ihr heute nicht mit den anderen in der großen Halle zu speisen braucht.«
»Das ist überaus willkommen, gnädiger Herr.«
Er nickt knapp. »Braucht Ihr noch irgendetwas, bevor ich gehe?«
Ich will, dass Ihr mir meinen Verstand zurückgebt, würde ich liebend gern antworten. Stattdessen frage ich nur, ob ich seinen Schreibtisch und seine Federn benutzen dürfe, um der Äbtissin über die jüngsten Ereignisse Mitteilung zu machen.
»Aber natürlich«, sagt er, dann verlässt er den Raum.
Sobald er weg ist, kann ich wieder atmen. In einem Versuch zu beweisen, dass er keine Macht über mich hat, durchsuche ich flüchtig seine Räume, kann aber nichts Interessantes finden. Keine geheime Korrespondenz, keine versteckten Waffen, nichts, was darauf hinweist, dass er irgendetwas anderes ist, als er zu sein behauptet: Annes hingebungsvoller Halbbruder.
Als das getan ist, wende ich mich schweren Herzens dem Brief zu, den ich schreiben muss. Es gibt vieles, was ich der Äbtissin mitteilen muss, aber es gibt noch viel mehr, das ich gern fragen würde. Kann sie mir irgendeinen Rat geben, wer Nemours ermordet haben könnte? Ist Duvals Name schon von jedem Verdacht reingewaschen worden? Darf
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