Grave Mercy Die Novizin des Todes
bleichen Spuren zu berühren, die irgendeine scharfe Klinge hinterlassen hat. Er zuckt zusammen, als habe er Schmerzen. »Tun sie immer noch weh?« Meine Stimme ist nur noch ein Flüstern.
»Nein.« Er klingt angespannt.
Ich zeichne die längste der Narben nach, die sich über seine Brust zieht. »Wie nah Ihr dem Tod gekommen seid. Wie unendlich nah.«
Ich schaudere, und mir ist gleichzeitig unerträglich warm, und ich friere. Gewiss hat Mortain ihn nicht verschont, nur damit ich ihn jetzt töte.
Die Muskeln unter meinen Fingern zucken, und plötzlich sehe ich nicht länger die Narben, sondern das Spiel straffer Muskeln unter seiner Haut und die Breite seiner Schultern. Hitze schießt mir in die Wangen, und außerstande, mich zu bezähmen, schaue ich auf, um seinem Blick zu begegnen. Er hebt meine Hand und küsst sie. »Liebe, süße Ismae.«
Die Sehnsucht und das Begehren, die in mir aufsteigen, sind so scharf wie jede Klinge und schneiden genauso tief. Es ist außerdem beängstigender. Ich entreiße ihm die Hand und drehe mich um, um nach seinem Hemd zu tasten, das er so achtlos zu Boden hat fallen lassen.
Ich beschäftige mich damit, es hochzuheben und von außen nach innen zu wenden. Ich kann seinen Blick auf mir spüren, und der Raum ist voller unausgesprochener Träume und Verlangen. Trotzdem konzentriere ich mich auf das Hemd, überprüfe sorgfältig die Nähte, die Manschetten, jede Stelle, an der man einen Spritzer Gift unterbringen könnte. Wie auch immer er vergiftet wurde, die Ursache sind nicht seine Kleider.
»Es ist sauber«, sage ich, dann drehe ich mich langsam um, um ihm das Hemd zurückzugeben.
Duval nimmt das Hemd vollkommen nüchtern entgegen und streift es sich über den Kopf. Ich nutze diesen Moment, um ihn auf ein Todesmal hin zu untersuchen. Abgesehen von seinen Narben ist nichts auf seiner Brust oder seiner Kehle, was bestätigt, dass er dieses Gift weder gegessen noch getrunken hat. Aber der Raum wird nur vom Feuer und von zwei Kerzen erhellt, also kann ich nicht feststellen, ob die gräuliche Blässe seiner Haut auf das schlechte Licht zurückzuführen ist, auf die Wirkungen des Giftes oder das Zeichen Mortains. Doch es spielt natürlich keine Rolle. Ich kann ihn nicht töten, Todesmal hin oder her.
»Wenn nicht Ihr es seid, die mich vergiftet hat, wer ist es dann?«, fragt er, während er seine Ärmel zurechtzupft.
»Es gibt so viele, die Euch Böses wollen, gnädiger Herr, es ist schwer zu sagen.«
Er verzieht das Gesicht, dann streift er sein Wams über. »Was ist das Gegenmittel?«, fragt er.
»Ich werde es nicht wissen, bis wir feststellen, welches Gift benutzt wurde.« Selbst dann würde ich es vielleicht nicht wissen; man hat mich nicht gelehrt, wie man den Wirkungen von Gift entgegenwirkt, nur wie man es am besten verabreicht. Es wird außerdem davon abhängen, wie viel er eingenommen hat oder welchen Schaden es in seinem Körper bereits angerichtet hat.
»Wie lange habe ich noch?«, fragt er.
Ich schlinge mir die Arme um den Leib und bemühe mich um einen ruhigen Tonfall. »Dass Ihr noch nicht tot seid, lässt hoffen. Viele Gifte, die Euch in großen Mengen töten werden, machen Euch nur krank, wenn sie in kleinen Dosen eingenommen werden.« Ich sage ihm nicht, dass einige dieser kleinen Dosen zu dauerhaften Konsequenzen führen.
Die grimmigen Linien um seinen Mund lassen mich glauben, dass er weiß, dass ich meine Worte mit Honig süße. »Wir müssen zusehen, dass Ihr bei Kräften bleibt, das ist das Beste, was wir für den Moment tun können. Esst und schlaft, gnädiger Herr, denn je stärker Ihr seid, umso besser werdet Ihr gegen die Wirkungen ankämpfen können.«
Als er sich vor das Tablett setzt, fällt er über sein Abendessen her, als sei es eine eindringende Armee, die er auslöschen muss. Als er fertig ist, legt er sich vors Feuer und schläft sofort ein. Aber ich schlafe nicht ein. Ich verbringe die langen, dunklen Stunden der Nacht damit, gegen die Verzweiflung zu kämpfen und auf die letzten Tage zurückzublicken, in dem Bemühen, Symptome auszumachen, die ich vielleicht übersehen habe.
Was ich ihm gesagt habe, ist wahr; es gibt Hunderte von Möglichkeiten. Viele adlige Häuser in Frankreich und Italien haben ihre eigenen Giftmischer, ein jeder mit seinem eigenen Geheimrezept oder seinem Gebräu. Es gibt Dutzende von Giften, die allein durch die Haut aufgenommen werden können. Wie soll ich jemals ermitteln, welches bei ihm angewendet wurde?
Und
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