Grave Mercy Die Novizin des Todes
Rubin zu sehen, den er, wie ich weiß, im linken Ohr trägt.
Der Narr schaut auf mein Mieder hinab und entspannt sich. Sind Männer wirklich solche Idioten, dass sie zwei Kugeln aus Fleisch nicht widerstehen können? Martel schaut zur Tür hinter uns und leckt sich über die Lippen. »Vielleicht kann ich, nachdem ich mein Geschäft abgewickelt habe, der Demoiselle behilflich sein«, schlägt er vor. Sein Blick wandert abermals zu meinem Mieder, und der Dolch an meinem Knöchel ruft nach meiner geballten Faust. Noch nicht, sage ich mir. Noch nicht.
»Das ist ein sehr freundliches Angebot.« Ich lasse den Blick an seinem Körper auf und ab wandern, als schätzte ich seine Reize ab. In Wahrheit suche ich nach dem Todesmal. Seine Stirn ist rein, ebenso wie seine Lippen. Unsicherheit keimt in mir auf. Ich seufze, als sei ich hingerissen. »Aber Jean-Paul«, sage ich, dann seufze ich noch einmal. Ich lege den Kopf schräg und denke nach. »Nun, er ist nicht hier. Vielleicht kann Monsieur helfen?« Als sei ich eine rossige Stute, denke ich angewidert, und jeder Hengst würde genügen.
Martel tritt näher. Ich schlucke den Abscheu herunter, der in meiner Kehle aufsteigt, und schlinge die Arme um seinen Hals. Da! Genau dort, wo sein Hemd seine Kinnlinie berührt, verschandelt ein dunkler Schatten seine Haut. Er sieht den Funken Interesse in meinen Augen auflodern, und seine eigenen Augen werden heiß von Begehren. Ich dränge mich noch dichter an ihn. Er leckt sich abermals über die Lippen. »Sobald ich fertig bin … vielleicht könnt Ihr im Nebenzimmer warten?«
»Mit Vergnügen, gnädiger Herr«, antworte ich. Er streift mit den Lippen mein Ohr, um unsere Übereinkunft zu besiegeln. Während ich so tue, als spielte ich mit dem Haar in seinem Nacken, ziehe ich das Armband von meinem Handgelenk. Gerade als seine Liebkosungen anfangen, sich gefährlich weit nach unten zu bewegen, reiße ich den verborgenen Draht aus dem Armband. Bevor er erahnen kann, was geschieht, schlinge ich den Draht um seinen Hals, wirbele aus seiner Umarmung, trete hinter ihn und ziehe, eine Bewegung, die ich hundertmal mit Annith geübt habe.
Er greift sich mit den Händen an den Hals und reißt an dem silbernen Draht. Die Laute, die er von sich gibt, sind hässlich und verzweifelt und erfüllen mich mit Unsicherheit. Dann erinnere ich mich daran, dass dieser Mann mein Land verrät, meine Herzogin, und ich ziehe fester und bete zu Mortain um Kraft.
Er gewährt sie mir. Nach einem kurzen, aber heftigen Kampf sackt Martel an meinem Körper zusammen. Bevor er das Bewusstsein gänzlich verliert, beuge ich mich vor und halte die Lippen an sein Ohr. »Wir bestrafen jene, die unser Land verraten.« Meine Worte sind sanft und zärtlich wie das Streicheln eines Liebenden. Martel macht einen letzten Versuch zu entfliehen, dann erzittert er, als der Tod ihn findet.
Bevor ich meinen Griff lösen kann, steigt von seinem Körper geballte Wärme auf und streicht durch mich hindurch, wie eine Katze, die sich an den Beinen ihres Besitzers reibt. Bilder füllen meinen Geist: eine Flotte von Schiffen, ein versiegelter Brief, ein schwerer goldener Siegelring, meine eigenen Brüste. Die Wärme umhüllt mich kurz, dann löst sie sich mit einem plötzlichen Hauch auf und lässt mich frierend und erschüttert zurück.
Was in Mortains Namen war das?
Seine Seele.
Die Worte kommen ungerufen. Beinahe so, als hätte sie jemand anderer – vielleicht der Gott selbst? – gesprochen.
Warum hat niemand im Kloster mich davor gewarnt? Ist dies eine der Herrlichkeiten Mortains, von denen Schwester Vereda gesprochen hat? Oder etwas anderes? Denn ich kann nicht entscheiden, ob ich soeben eine heilige Macht besudelt oder geehrt habe.
Aber ich habe keine Zeit für Überlegungen. Ich schiebe meine Fragen beiseite und stemme mich gegen den Körper des Mannes, um sein Gewicht auszubalancieren, während ich den Würgedraht von seinem Hals nehme. Ich wische den Draht an seinem Wams ab, dann lasse ich ihn wieder in das Armband zurückgleiten. Als Nächstes lehne ich den Leichnam ans Fenster und spähe in den Innenhof hinunter, wobei ich bete, dass der Wagen, den Kanzler Crunard versprochen hat, da ist.
Er ist es.
Ich packe den Verräter am Kragen und mache mich ans Werk, seinen Leichnam durchs Fenster zu hieven.
Für einen kleinen Mann ist er überraschend schwer. Ich kämpfe mit seinem leblosen Körper und versuche, ihn über das Sims zu legen. Dann versetze ich ihm schwer
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