Graveminder
entschlossen, ihr zu helfen, damit sie diese Situation durchstand.
Sie hätte vieles sagen, sich entschuldigen, Erklärungen abgeben, vielleicht sogar Ausreden suchen sollen. Doch sie schwieg, während er die Fahrertür öffnete und einstieg – und er drängte sie nicht. Das hatte er noch nie getan.
Als sie vom Parkplatz wegfuhren, entspannte sich Rebekkah zum ersten Mal, seit sie den Anruf bekommen hatte. Byron war der einzige Mensch auf der Welt, der sie wirklich kannte, mit ihren Mängeln und allem anderen. Neben ihm zu sitzen, fühlte sich sowohl tröstlich als auch unwirklich an. Als sie während der Highschool nach Claysville gezogen war, war er Ellas Freund gewesen, doch statt über Rebekkah hinwegzusehen, hatte er darauf geachtet, sie mit einzubeziehen – so sehr, dass er für sie mehr als ein Freund geworden war. So sehr, dass sie einmal, nur einmal diese Grenze überschritten hatte.
Dann war Ella gestorben.
Danach war es Rebekkah schwergefallen, auf der richtigen Seite der Grenze zu bleiben, und sie war im Lauf der Jahre immer wieder in seinem Bett gelandet. Aber es endete stets gleich: Byron wollte mehr, als sie ihm geben konnte.
Sie warf einen verstohlenen Blick auf seinen Ringfinger, und er tat, als hätte er es nicht bemerkt.
»Musst du noch irgendwo anhalten?«, fragte er.
»Nein. Vielleicht. Ich bin mir nicht ganz sicher.« Sie holte tief Luft. »Ich vermute, die Küchenschränke … wahrscheinlich ist Essen kein Thema.«
»Nein.« Byron wandte den Blick gerade lange genug von der dunklen Straße ab, um kurz in ihre Richtung zu sehen. Ein zögernder Ausdruck huschte über sein umschattetes Gesicht. »Noch haben die Nachbarn nicht allzu viele Gerichte zum Aufwärmen gebracht, aber ein paar stehen bestimmt im Kühlschrank.«
»Hier ändert sich nie etwas, oder?«, murmelte sie.
»Ganz und gar nicht.« Er gab ein Geräusch von sich, das vielleicht ein Lachen sein sollte. »Als wäre die Welt an der Stadtgrenze zu Ende.«
»Geht’s deinem Daddy gut?«
»Er tut so als ob.« Byron hielt inne, als müsse er seine Worte abwägen. »Du weißt, dass er sie geliebt hat?«, fragte er schließlich.
»Ja.«
Rebekkah legte den Kopf gegen das Fenster. »Ich habe das Gefühl, den Boden unter den Füßen verloren zu haben. Sie ist … war …«
Als ihr die Stimme versagte, streckte er die Hand aus und verflocht seine Finger mit den ihren.
»Sie war mein Fels in der Brandung. Ganz egal, wie oft ich umgezogen bin, wie viele Jobs ich in den Sand gesetzt habe, ganz gleich, wie sehr ich alles in den Sand gesetzt habe. Sie war mein Zuhause, meine Familie. Nicht, dass Mom nicht großartig wäre, sie ist wirklich ganz große Klasse, aber sie ist … ich weiß nicht … Nach Ellas und Jimmys Tod … Manchmal glaube ich, Mom hat den Verlust der beiden nie verwunden. Maylene hat an mich geglaubt. Sie hielt mich für besser, als ich bin, besser, als ich je werden könnte. Sie erstickte mich nicht mit ihrer Liebe, aber ich brauchte mich auch nicht schuldig zu fühlen, wenn ich darum bat.« Rebekkah spürte, wie ihr erneut Tränen in die Augen stiegen, und blinzelte, um die Schleier in ihrem Blickfeld zu vertreiben. »Ich habe das Gefühl, dass alles weg ist. Sie sind nicht mehr da. Die ganze Familie Barrow. Ich habe nur noch Mom.«
Streng genommen war Rebekkah keine Barrow. Sie hatte diesen Namen angenommen, als ihre Mutter Jimmy geheiratet hatte. Und sie behielt ihn, weil er Maylenes Name war, Ellas und Jimmys Name. Sie waren ihre Familie; nicht durch Blutsverwandtschaft, sondern aus freier Wahl. Die einzigen Barrows, die es sonst noch gab, hassten sie: Jimmys Schwester Cissy und deren Töchter.
Kurz wünschte sich Rebekkah, ihre Mutter hätte sie begleitet. Aber sie wusste nicht einmal genau, wo Julia sich zurzeit aufhielt. Genau wie Rebekkah litt ihre Mutter ernstlich unter Fernweh. Aber im Gegensatz zu Rebekkah war Julia nie wieder nach Claysville zurückgekehrt. Sie war nicht einmal zu Jimmys Beerdigung gekommen. Manchmal sprach Julia von ihm, und dann wurde klar, dass sie ihn noch immer liebte. Aber was auch zwischen ihnen passiert war, musste so schwerwiegend gewesen sein, dass sie nicht mehr bereit war, je wieder einen Fuß nach Claysville zu setzen.
Rebekkah entzog Byron ihre Hand. »Tut mir leid.«
»Was?«
Sie hob die Schultern. »Bei der Arbeit hast du schon genug Leute, die sich an deiner Schulter ausweinen.«
»Nicht! Bitte, ja?« Seine Stimme klar rau, aber er streckte ihr die offene
Weitere Kostenlose Bücher