Graveminder
das war normal, auch wenn Maylenes Abwesenheit nicht normal war. Wenigstens teilweise sollte – musste – ihre Heimkehr so sein wie immer.
Rebekkah setzte sich auf die Verandaschaukel. Als sie sie anschob, quietschten die Ketten, und sie lächelte leise. Das war richtig. Das bedeutete, zu Hause zu sein. Sie wickelte sich in die Decke und spähte zu den Lichtpunkten am Himmel auf. »Was soll ich nur ohne dich anfangen?«, flüsterte sie.
»Ist mit Ihnen alles in Ordnung?«
Die Stimme aus der Dunkelheit zog Rebekkahs Aufmerksamkeit auf sich. Ein Mädchen von höchstens siebzehn Jahren – älter, als Ella geworden war – stand auf dem Rasen vor dem Haus. Ihre spitzen Züge wirkten angespannt, und ihre Haltung drückte Misstrauen aus.
»Nein, das kann man nicht sagen.« Rebekkah sah an ihr vorbei und suchte nach den Freunden des Mädchens, aber sie schien allein zu sein.
»Sie sind Maylenes Verwandte, stimmt’s? Die, die nicht von hier stammt.«
Rebekkah stellte die Füße auf den Boden, und die Schaukel kam zum Stillstand. »Kenne ich dich?«
»Nee.«
»Also … hast du meine Großmutter gekannt? Sie ist nicht mehr da. Gestorben.«
»Ich weiß.« Das Mädchen trat vor. Ihr Gang wirkte linkisch, als zwinge sie sich, sich langsamer als natürlich zu bewegen. »Ich wollte herkommen.«
»Allein? Um halb vier Uhr morgens? Wenn deine Eltern dir das durchgehen lassen, dann muss sich hier aber einiges geändert haben.« Rebekkah spürte, wie ihre Lippen sich zu einem schwachen Lächeln verzogen. »Ich dachte, ab Sonnenuntergang gilt weiterhin die Ausgangssperre, es sei denn, man ist mit einer Gruppe unterwegs.«
Mit einem trockenen Knall fiel die Fliegengittertür zu, und Byron trat nach draußen. Seine Miene lag im Schatten, aber sie brauchte sein Gesicht nicht zu sehen, um seine Anspannung zu erkennen. »Sollen wir jemanden für dich anrufen?«, fragte er, und sein Tonfall sagte ihr alles.
»Nein.« Das Mädchen wich zurück, weg von der Veranda und tiefer in die Dunkelheit hinein.
Byron trat so an den Rand der Veranda, dass er vor Rebekkah stand. »Ich weiß nicht, was du hier suchst, aber …«
Das Mädchen wandte sich ab und verschwand, und zwar so plötzlich, dass Rebekkah sie wider besseres Wissen beinahe für eine Halluzination gehalten hätte.
»Sie war einfach weg .« Rebekkah erschauerte. »Was meinst du, kommt sie zurecht?«
»Warum nicht?« Byron wandte sich nicht zu ihr um, sondern starrte in die Dunkelheit, auf die Stelle, an der das Mädchen verschwunden war.
Rebekkah schmiegte sich tiefer in ihre Decke. »Byron? Sollen wir ihr nicht nachgehen? Kennst du sie? Mir kam es so vor, als ob … Ach, ich weiß nicht. Sollten wir Chris anrufen … oder ihre Familie oder …«
»Nein.« Über die Schulter warf er ihr einen Blick zu. »Als wir in ihrem Alter waren, sind wir ziemlich oft noch nach der Ausgangssperre unterwegs gewesen.«
»Aber nicht allein.«
»Doch.« Byron lachte, doch es klang gezwungen. »Wie oft habe ich euch beide nach Hause gebracht und bin dann zurückgerannt, damit Dad mich nach dem Zapfenstreich nicht allein erwischte.«
Blitzartig und voller Schuldgefühle erinnerte sich Rebekkah daran, wie sie nach drinnen gerannt war, damit sie nicht zusehen musste, wie er Ella zum Abschied küsste. Sie zwang sich, seinem Blick standzuhalten. »Vielleicht war ich damals ja mutiger.« Stirnrunzelnd sah sie an ihm vorbei in die Dunkelheit. »Oje, man höre sich nur an, was ich rede! Ich bin noch nicht mal einen Tag zurück, und schon mache ich mir Sorgen wegen der Ausgangssperre. In den meisten kleineren und größeren Städten gibt es keine Ausgangssperre nach Sonnenuntergang.«
»Es gibt eben keine Stadt wie Claysville, stimmt’s?« Er setzte sich ans andere Ende der Schaukel.
»Wenn, dann müsste einer von uns sie inzwischen gefunden haben.« Mit einem Fuß stieß sie sich von der Veranda ab, bis die Schaukel wieder schwang. »Hast du diesen … ich weiß nicht … Klick gespürt, als du zurückgekommen bist?«
Byron tat nicht einmal so, als hätte er sie missverstanden. »Ja.«
»Manchmal hasse ich dieses Gefühl. Es hat eher dafür gesorgt, dass ich länger weggeblieben bin. Aber Maylene ist … war alles für mich. Manchmal, wenn ich sie gesehen habe, konnte ich vergessen, dass Ella …«
»… nicht mehr da war.«
»Genau. Nicht mehr da«, flüsterte sie. »Und jetzt sind Maylene und Jimmy auch nicht mehr da. Meine Familie ist fort. Warum fühlt sich also
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