Graveminder
Zeit, die bei uns zwischen Tod und Begräbnis liegt.«
Er wollte sie weder mit seinen Worten noch mit seinem Tonfall verletzen, trotzdem zog sich ihr Herz zusammen. »Ich habe es erst gestern erfahren. Und dann der Flug und die Heimfahrt und …«
Sie hörte sich selbst, lauschte den Ausreden, die ihr über die Lippen kamen. Die Wahrheit hieß, dass sie Maylene nicht still und leblos in ihrem Sarg sehen wollte – und vor allem nicht vor anderen Leuten.
»Und dann noch der Jetlag«, setzte William hinzu. »Niemand nimmt es Ihnen übel, wenn Sie nicht nach draußen gehen. Wenige wissen überhaupt, dass Sie schon zurück sind.«
»Danke. Für alles. Sie und Byron sind so … Ohne Sie beide würde ich mich noch verlorener fühlen.« Sie schenkte ihm ein Lächeln, tränenerfüllt, aber immerhin ein Lächeln.
William erwiderte es sanft. »Die Montgomerys werden sich immer um die Barrows kümmern, Rebekkah. Ich hätte alles für Maylene getan, so wie Byron alles für Sie täte.«
Rebekkah wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Ob William wohl glaubte, sie und Byron seien in Verbindung geblieben? Darüber mochte sie eigentlich nicht nachdenken. Sie schob das Thema beiseite und blickte in die müden Augen von Byrons Vater. Die dunklen Ringe darunter mochten seinem Alter entsprechen, aber die Rötung der Netzhaut verriet, dass er geweint hatte. Maylene und er waren seit ewigen Zeiten befreundet und fast genauso lange ein Paar gewesen.
Rebekkah wurde klar, dass sie William anstarrte. »Geht es … geht es Ihnen gut?«, fragte sie und kam sich sofort wie eine Närrin vor. Natürlich ging es ihm nicht gut. Wenn Byron etwas passiert wäre … Sie schüttelte den Kopf, als könne sie damit den Gedanken auslöschen.
William tätschelte Rebekkahs Hand und wandte sich ab, um ihre Kaffeetasse nachzufüllen. »Genauso gut wie Ihnen, kann ich mir vorstellen. Ohne Maylene ist das Leben weniger lebenswert. Sie hat mir seit langer Zeit alles bedeutet.« Seine Stimme drohte zu brechen. »Ich muss nach vorn. Sie bleiben hier und essen. Ich hole Sie, wenn die Leute gehen, damit Sie kurz mit ihr allein sein können.«
»Muss ich etwas tun?«, entfuhr es ihr bei der Vorstellung, plötzlich allein gelassen zu werden. »Ich meine, Papiere oder … so etwas? Irgendetwas?«
Er wandte sich wieder zu ihr um. »Nein, jetzt nicht. Maylene hat sehr genaue Anweisungen hinterlassen. Sie wollte nicht, dass Sie sich mit diesen Angelegenheiten befassen müssen, daher haben wir dafür gesorgt, als alles im Voraus geregelt wurde.« William strich Rebekkahs Haar zurück, als wäre sie noch ein kleines Kind. »Byron kommt gleich herunter, und wenn Sie ihn brauchen, dürfen Sie auch gern nach oben gehen. Das Haus hat sich nicht verändert. Ich bin dann draußen bei Maylene.«
»Sie ist nicht hier«, flüsterte Rebekkah. »Nur ihre leere Hülle.«
»Ich weiß, aber ich muss trotzdem nach ihr sehen. Sie hat ihre wohlverdiente Ruhe gefunden, Rebekkah. Ganz bestimmt.« Er hatte Tränen in den Augen. »Sie war der wunderbarste Mensch, dem ich je begegnet bin. Stark. Gut. Mutig. Und sie hat alle diese Charakterzüge in Ihnen gesehen. Sie müssen tapfer sein, damit sie stolz auf Sie ist.«
Rebekkah nickte. »Ich werde tapfer sein.«
Dann ließ William sie mit ihrem Kummer allein in der Küche zurück. Am liebsten wäre sie sogleich aufgesprungen und Byron nachgegangen.
Feigling, schalt sie sich.
Allein zu bleiben war klüger. Sie lebte seit Jahren allein, war schon allein gereist. Es war nur so, dass sie ihre Trauer leichter im Zaum halten konnte, wenn sie Zeugen hatte. Wie Maylene ihr beigebracht hatte, zeigte sie nie, wie schlecht es ihr ging. Zeig der Welt nicht, dass du angreifbar bist, Liebchen! , hatte sie sie erinnert, als spitze Bemerkungen von Fremden und Klassenkameraden sie verletzt hatten. Stärke besteht größtenteils in dem Wissen, wann man seine Schwächen verstecken muss und wann man sich zu ihnen bekennen darf. Wenn wir unter uns sind, kannst du weinen. Doch vor der Welt musst du Haltung bewahren.
»Ich bin stark. Ich erinnere mich«, flüsterte Rebekkah.
Als sie ihr Frühstück beendet hatte, war Byron immer noch nicht heruntergekommen, daher trat sie durch die Tür, die den privaten Teil des Hauses vom öffentlichen trennte. Sie mischte sich unter die Trauergäste und nahm deren Kopfnicken und Umarmungen entgegen, ohne mit der Wimper zu zucken, während sie auf Maylenes Leichnam zuging.
Ich weiß, dass du fort bist,
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