Graveminder
den köstlich aussehenden Leckerbissen lagen Messer, Löffel und Gabeln aus Silber.
»Um die Leute, die Sie angegriffen haben, wird man sich kümmern, und natürlich werden Sie von Wächtern beschützt.« Charles ließ ihre Hand los, nahm eins der Messer und schnitt in ein Kuchenstück. »Er bereitet immer viel zu viele Desserts zu. Mit dieser Methode will er herausfinden, was Sie mögen.«
»Ward?«
»Nein, meine Liebe. Ward ist in der Küche ein hoffnungsloser Fall. Er ist mein Leibwächter.« Mit seiner Gabel wies Charles auf eine Cremetorte. »Die schmeckt für gewöhnlich recht gut.«
»Jeder hier scheint zu wissen, wer ich bin und was ich bin, und ich selbst hatte keine Ahnung. Maylene hat mich nicht …« Sie verstummte. Sie wusste nicht viel über Charles, fast gar nichts, aber sie sprach so offen, als vertraue sie ihm. Abermals stand sie vom Tisch auf und trat an die Balkonbrüstung.
Dieses Mal folgte er ihr, sodass sie Schulter an Schulter dastanden. »Maylene ist eine wunderbare Frau. Sie hat ihre Rolle unter den Toten mit Bravour gemeistert.« Er runzelte die Stirn, als auf der Straße unter ihnen ein Auto mit gellender Sirene heranfuhr. »Sie hatte gute Gründe dafür, Ihnen die Einzelheiten zu verschweigen, die Sie wissen wollen.«
»Wieso sollte es gut gewesen sein, all das geheim zu halten?« Rebekkah kam sich bei diesen Worten wie eine Verräterin vor, aber sie sah es nun einmal so.
»Maylene hatte ihre Gründe.« Charles legte Rebekkah eine Hand auf den Unterarm. »Wussten Sie, dass Ihre Mutter eine Abtreibung vornehmen ließ?«
Rebekkah starrte Charles an. »Nein … aber viele Frauen …«
»Sie hat es getan, weil Jimmy nicht noch eine Tochter wollte, die für diese Aufgabe geboren worden wäre.« Er drückte ihr Handgelenk. »Ella, seine Tochter, starb wegen Maylene. Das hieß, dass die nächste Totenwächterin eine seiner Nichten sein würde – oder Sie. Es sei denn, Ihre Mutter hätte das Kind bekommen, mit dem sie bei Ellas Tod schwanger war. Er bat sie, dieses Kind nicht zur Welt zu bringen.«
»Sie behaupten, er habe von alldem gewusst …« Sie dachte an Julias Einstellung zu Claysville, ihre Weigerung, in die Stadt zurückzukehren, daran, dass sie nicht einmal zu Jimmys Beerdigung hatte kommen wollen. »Jimmy wusste Bescheid über das Land der Toten?«
»Wenige Menschen dort drüben können sich vergegenwärtigen, wer die Graveminder sind. Aber für die Familie der Totenwächterin wird eine Ausnahme gemacht. Maylenes Mutter war Graveminder, daher wusste sie immer, was auf sie zukam. Bitty hatte übrigens einen leichten Tod – sie ist einfach durch meine Tür spaziert, als Maylene bereit war.« Charles seufzte. »Welch eine Frau! Eine resolute Person. Hatte kein Problem mit ihrer Bestimmung. Zuckte mit keiner Wimper. Einmal hat sie einem Mann eine Hutnadel ins Auge gestochen, armer Kerl.« Charles hielt inne. »Ihre Mutter hat Ella und das Ungeborene im gleichen Jahr verloren«, fuhr er dann fort. »Daraufhin hat sie Jimmy verlassen. Dadurch, dass Maylene Graveminder war und Sie es sind, verlor er alles. Er hatte Angst und zerstörte sich dadurch selbst.«
Tränen brannten in Rebekkahs Augen, doch sie hielt sie zurück. Aufgrund dieser Tatsache – weil sie Graveminder waren – war ihre ganze Familie zerstört worden. Die Ehe ihrer Eltern war gescheitert, ihre Mutter hatte gelitten. Jimmy war tot, Ella … und nun auch Maylene. Diese Erkenntnis erschwerte es Rebekkah, Maylene für ihr Schweigen zu verurteilen.
»Sie müssen begreifen, warum sie Ihnen nichts gesagt hat«, erklärte Charles sanft. »Es war ihre Entscheidung, und ich habe sie gebilligt. Das bedeutet allerdings auch – Sie haben keine Zeit, sich in Ruhe mit allem vertraut zu machen. Nachher, falls Sie überleben, steht Ihnen dieses Haus, mein Haus, offen.« Er nahm Rebekkahs Hände und zwang sie, ihn anzusehen. »Diese ganze Welt gehört Ihnen. Dort drüben wird ebenfalls für Ihre Bedürfnisse gesorgt. Die Stadt wird sich darum kümmern. Das gehört zu der Übereinkunft, die wir vor etlichen hundert Jahren getroffen haben. Zuerst allerdings müssen Sie sich um die unangenehmen Angelegenheiten kümmern: Daisha muss hergebracht werden. Man hat sie frei herumlaufen lassen, und mit jedem Tag, der vergeht, mit jedem Bissen, jedem Schluck und jedem Atemzug, den sie von einem Menschen nimmt, wird sie stärker.«
Rebekkah entzog ihm die Hände und schlang die Arme um den Körper. Trotzdem zitterte sie.
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