Graveminder
»Daisha? Sie kennen den Namen der Mörderin?«
»Natürlich. Ich bin Mister D und kenne alle, die den Toten gehören, auch Sie. Ich kenne Sie so gut wie niemand sonst in beiden Welten.« Er streckte die Hand aus und umfasste ihr Kinn.
Wieder trat sie zurück, aus seiner Reichweite. »Fassen Sie mich nicht an!«
Die Hand immer noch ausgestreckt, hielt er inne. »Sie benehmen sich töricht, Rebekkah.«
Einen Moment lang standen beide reglos da, dann hob er die Schultern. »Ihr anderer Begleiter müsste jeden Moment hier eintreffen. Bis zum nächsten Mal.«
Er ging davon und ließ sie zitternd auf seinem Balkon stehen.
Während Byron mit Boyd durch die Straßen ging, spürte er die Blicke von Fremden schwer auf sich lasten. Der Mann hatte noch kein Wort gesprochen, und um die Wahrheit zu sagen, hatte Byron ohnehin nicht viel Lust zum Reden. Er hatte den Revolver, den Alicia ihm gegeben hatte, aus dem Seesack genommen, sich vergewissert, dass er geladen war, und trug ihn offen in der Hand.
Ihm fehlte es an Routine, doch nachdem er mit seinem Vater jahrelang Schießübungen absolviert hatte, hoffte er die Ziele, auf die er anlegte, auch zu treffen. Mit einem Mal wurde offensichtlich, zu welchem Zweck er zusammen mit seinem Vater jahrelang diesen eigenartigen Hobbys nachgegangen war: Sie hatten ihn auf eine Laufbahn vorbereitet, die erst jetzt einen Namen bekommen hatte. Byron war William dankbar dafür, doch die Erkenntnis warf auch einen unangenehmen Schatten auf seine Erinnerungen.
Dennoch fühlte sich das Gewicht des Revolvers in seiner Hand beruhigend an. Lieber hätte er ihn in einem Holster getragen, aber er hatte keins mitbekommen und mochte die Waffe nicht in den Hosenbund schieben. In einem Roman kam das gut, aber in der Realität wollte er eine geladene Waffe nicht auf diese Weise transportieren.
»Muss ich mich jedes Mal bewaffnen, wenn ich herkomme?«, fragte er Boyd leise.
»Nein. Aber die Übergangszeit ist immer ein wenig spannungsgeladen. Die Leute werden sich an Sie gewöhnen«, erklärte Boyd. »Sie sind neu. Einige haben vermutlich den Wunsch, Sie auf die Probe zu stellen.«
»Ist es strafbar, sie zu erschießen?«
»Nur wenn der Betreffende es persönlich nimmt.« Boyds Antwort erfolgte in so trockenem Ton, dass Byron erst nach seinem nächsten Satz beurteilen konnte, ob er scherzte. »Schießen Sie richtig. Seien Sie nicht zaghaft, sondern sorgen Sie dafür, dass der andere eine ordentliche Narbe zurückbehält. Um sich dafür an der Bar einen ausgeben zu lassen, verstehen Sie?«
»Einen ausgeben?« Byron warf Boyd einen Blick zu. »Ernsthaft?«
»Klar. Ein Mann kann umsonst trinken, wenn seine Geschichte gut ist, und Sie sind eine Sensation in dieser Stadt, Undertaker. Sie und die Frau. Hier passiert nicht viel. Jeden Tag der gleiche Mist.« Boyd duckte sich in eine Nische. »Das war’s. Ich gehe nicht weiter. In diesem Haus bin ich nicht willkommen.«
Obwohl auch einige der anderen Gebäude schön anzusehen waren, stach Mister Ds Haus hervor wie ein Herrenhaus inmitten einer Trümmerwüste. Marmortreppe, Säulen und eine gewaltige Eingangstür sorgten dafür, dass das Gebäude unübersehbar war. In einem Dachgarten oberhalb des dritten Stockwerks wuchsen hohe Bäume, und Pflanzen hingen über den Rand herab. Im zweiten Stock verlief ein langer Balkon über die Hälfte des Hauses. An der Brüstung stand Rebekkah und blickte über die Stadt hinaus.
Sie lebte. Sie war in Sicherheit. Sie … war gekleidet wie die toten Frauen auf den Straßen.
Byron runzelte die Stirn. Es war eine Sache, die Stadtbewohner in der Mode vergangener Zeiten zu sehen, aber Rebekkah so außerhalb ihrer eigenen Zeit anzutreffen, wirkte beunruhigend. Er hatte sie schon in Kleidern gesehen, aber in dem Gewand aus Seide und Gaze, das sie jetzt trug, sah sie aus, als gehöre sie in Charlies Villa. Mit halb geöffneten Lippen sah sie über die Stadt hinaus wie das Mitglied einer königlichen Familie über ein weites Reich.
Ich bin wegen ihrer Sicherheit in Panik, schoss es Byron durch den Kopf, und sie steht auf einem Balkon und betrachtet die Stadt. Er war nicht sicher, ob diese Erkenntnis ihn eher beruhigte oder mit Sorge erfüllte. Über eins war er sich allerdings im Klaren – es gefiel ihm nicht, dass sie aussah, als gehöre sie hierher. Sie bleibt nicht hier, dachte er. Sie hat versprochen, wieder mit nach Hause zu kommen. Er sprach Boyd an, wandte jedoch den Blick nicht von Rebekkah. »Was passiert,
Weitere Kostenlose Bücher