Graveminder
Totenwächterin in die Arme. »Dies jedoch kann ich nicht ungeschehen machen.«
»Mein Sohn ist tot, und du …«
»Die Toten können nicht so zurückkehren, als wären sie noch am Leben. Das ist verboten.« Er strich ihr über die feuchten Wangen. Seine Graveminder gehörten zu den stärksten und mutigsten unter den Frauen, und doch waren sie so zerbrechlich wie alle Sterblichen.
Sie trat zurück und sah Charles in die Augen. »Wenn du mir nicht hilfst, damit er lebendig zurückkehrt, lasse ich ihn als Hungrigen Toten wiederauferstehen.«
»Alicia …«
»Nein. Ich tue alles, was von mir verlangt wird. Ich bin hier« – mit weit ausholender Geste umfasste sie die Ladenfronten an den Straßen im Land der Toten – »als deine Totenwächterin, ohne je eine andere Wahl gehabt zu haben. Ich habe getan, was du verlangt hast, was meine Tante verlangt hat, als sie mich zu ihrer Erbin bestimmte. Alles, was ich mir je wünschte, war eine Familie und …« Wieder liefen ihr Tränen über die Wangen. »Er ist mein Sohn .«
»Es tut mir leid«, sagte Charles.
»Nein. Die Regeln bestimmen, dass wir bis zum Alter von achtzig sicher sind. Brendan war noch ein Kind. Ihm hätte nichts zustoßen dürfen.«
»Für Unfälle trage ich keine Verantwortung. Armut, Unfälle, Mord, Feuer – das alles kann ich nicht aufhalten.« Charles wusste, dass die Menschen sich nicht an sämtliche Einzelheiten erinnerten. Der Vertrag, den er mit Claysville geschlossen hatte, war nicht schriftlich niedergelegt. Seine Bewohner hatten zu große Angst gehabt, Außenseiter könnten davon erfahren, Angst, die Hexenjäger könnten nach Claysville kommen.
»Mein aufrichtiges Beileid.« Charles streckte die Hand aus, doch sie wandte sich ab. Er beobachtete sie, kannte sie ebenso genau, wie er jede Totenwächterin seit der ersten – Abigail – gekannt hatte. Sie waren stark und fürchteten sich nicht davor, die Regeln anzuzweifeln, die sie für sinnlos hielten. Leben und Tod, alles lag in den Händen dieser Frauen. Er war nur der Tod. Ein einziges Mal hatte er versucht, Leben zurückzugeben.
Für Abigail.
Und das Ergebnis war eine Katastrophe gewesen.
»Du kannst doch etwas tun … Bitte!«
»Ich kann ihm das Leben nicht zurückgeben«, erklärte Charles. »Und wenn du deine Drohung wahr machst, bist du am nächsten Tag tot. Das kann ich dir versichern. Du verhinderst, dass die Toten wandeln, Alicia. Du darfst sie niemals zur Rückkehr auffordern.«
»Ich hasse dich.«
»Das verstehe ich.« Er nickte. »Wenn du willst, kannst du deinen Zorn die ganze Ewigkeit lang an mir auslassen, aber wenn du das tust, verurteilst du dich und deinen Undertaker zum Tod.«
Im Widerspruch zu jedem gesunden Menschenverstand bedauerte Charles seine Entscheidung noch immer. Alicia oder irgendeine seiner Totenwächterinnen – zu verletzen war ihm nicht leichtgefallen. Hätte er Alicia ihr Kind ungestraft wiedergeben können, hätte er es getan, doch auch er war an Regeln gebunden. Einmal hatte er diese Regeln für Abigail gebrochen, eine Sterbliche, die ein Tor ins Land der Toten geöffnet hatte.
Und jetzt sehen wir ja, was wir davon haben, dachte er.
35. Kapitel
Byron war dankbar für Rebekkahs Schweigen, während sie das Land der Toten verließen. Seine Erleichterung, sie unverletzt wiederzusehen, rang mit dem Zorn darüber, dass sie im Land der Toten allein gewesen war. Dafür hatte Charlie gesorgt, rief er sich ins Gedächtnis. Leider war er sich ebenfalls des Umstands bewusst, dass Charlie dies nicht gelungen wäre, hätte Rebekkah seine Hand nicht losgelassen: Sie war so fasziniert gewesen von den dortigen Eindrücken, dass sie von ihm weggetreten war.
Die Welt, die sie zu sehen schien, war ganz anders als jene, die er erlebte, und sogar jetzt, als sie neben ihm herging, war sie in Gedanken verloren, die ihm verschlossen blieben. Er hatte gewusst, dass sie diese Welt anders wahrnehmen würde als er, aber er hatte nicht darüber nachgedacht, was das bedeutete. Mittlerweile hatte er nicht die geringste Lust mehr, noch einmal einen Fuß dorthin zu setzen.
Es sei denn, um Rebekkah zu beschützen.
Er wog die Möglichkeit ab, das Tor zu öffnen und die Toten einfach in den Tunnel zu schieben, doch bei der bildlichen Vorstellung, wie er das tote Mädchen – Daisha – in einen Tunnel stieß, ohne sie ins Land der Toten zu geleiten, fühlte er sich wie ein Verbrecher. Gute Menschen entführten keine Leute. Gute Menschen fesselten sie nicht und
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