Gray Kiss (German Edition)
dieser Typ?“, erkundigte sich Jordan und rümpfte die Nase.
„Das … Das ist Seth“, stellte ich ihn vor. „Ein gefallener Engel, der schon lange in Trinity lebt. Seth, das ist Jordan.“
„Sehr erfreut“, meinte Jordan unaufrichtig. Sie beäugte Seth, als wäre er etwas, das an ihrer Schuhsohle klebte. „Können wir das jetzt beenden? Ich möchte zurück zu meinem Auto und nach Hause fahren. Ich habe auf einmal das Bedürfnis nach einer ausgiebigen Dusche.“
„Seth, was ist los?“, erkundigte ich mich. „Ich weiß ja, dass du nie lang genug bleibst, um mir meine Fragen zu beantworten, aber ich muss ein paar Dinge wissen. Wieso sollte Roth mich zu dir bringen? Was musst du mir sagen? Hast du vielleicht etwas gesehen, das uns helfen kann?“
„Helfen“, murmelte er. „Ja, darum geht es. Ich freue mich, dass es dir besser geht. Alles wieder gut. Alles neu. Viel nützlicher jetzt.“
In mir begann es zu brodeln. Hier stimmte doch was nicht. Wieso kam ich nicht darauf, was es war?
Vermutlich lag es an einer Eigenschaft, derer ich mich immer gerühmt hatte: mein Realismus. Inzwischen war ich mir zwar bewusst, dass merkwürdige und magische Dinge existieren, die sich andauernd um uns herum ereigneten, dennoch weigerte ich mich, das einfach so hinzunehmen. Ich brauchte immer Beweise. Beweise, die die Daten unterfütterten.
Vielleicht würde ich ja wirklich eines Tages Autorin werden. Von Sachbüchern, wo Fakten mehr zählten als die Fantasie. Aber im Moment erwies ich mir mit meiner nüchternen Herangehensweise keinen Gefallen.
Ich musste über das hinausdenken, was ich mit meinen Augen wahrnahm.
Ich musste ausnahmsweise auf mein Bauchgefühl hören.
„Ich habe von dir geträumt“, erzählte ich mit trockenem Mund. „Als ich zwanzig Minuten lang tot war. Mein Unterbewusstsein brachte dich zum Vorschein, sauber und gut angezogen und geistig gesund. Wieso du?“
„Ich habe keine Ahnung, wovon du redest“, antwortete Seth.
„Dann sind wir schon zu zweit, Penner.“ Jordan tippte genervt mit dem Fuß. „Komm jetzt, Samantha. Lass uns abhauen.“
„Ihr verschwindet nirgendwohin“, mischte sich Roth ein.
Sie schenkte ihm einen vernichtenden Blick. „Du bist echt ein Vollpfosten.“
„Wenn du meinst.“
„Was ist los mit dir, Mann? Arbeitest du für diesen Irren?“
„Könnte man sagen.“
Ich sah Roth fragend an. „Was heißt das? Wenn du Seth kennst, warum bringst du ihn dann nicht zum Team? Er könnte Bishop helfen. Sie sind schließlich beide gefallene Engel mit einer Seele.“
„Verrückt, nicht wahr?“, ergriff Seth wieder das Wort und strich sich abwesend über den Bart. „Schon fast komisch.“
Ich wurde nervös. Denn ich hörte auf meine innere Stimme, und die sagte mir etwas sehr Wichtiges: Seth klang heute Nacht alles andere als geisteskrank. Dabei war er sonst immer so - nur nicht in meinem Traum.
Ich schaute ihn an. „Was ist verrückt?“
„Wie kommst du darauf, dass ich ein Engel bin?“
Ich wollte ihm sofort antworten, doch mir fiel nichts ein. „Hast du mir das nicht erzählt?“
„Nein. Ich habe nie so etwas behauptet.“ Er drehte den Kopf, um mich zu mustern. „Du hast deine eigenen Schlüsse gezogen, vermutlich, da du mit diesem anderen Engel zu tun hast, der dich so beschäftigt hat, dass du mich kaum wahrgenommen hast.“
„Ich habe deine Seele gespürt.“ Ich wunderte mich, denn ich meinte, mich an unsere erste Unterhaltung vor dem Crave erinnern zu können.
„Seelen sind komplizierte Dinger. Eine schlimmere Bestrafung als der Tod. Menschen müssen Seelen haben. Auch ich war mal ein Mensch und hatte eine Seele, dann machte ich den Wandel durch und hatte danach immer noch keine Probleme, weil es meine natürliche Seele war.“ Er berührte seine Brust. „Die, die sie mir eingebrannt haben, war allerdings von Anfang an eine Herausforderung für mich. Doch auch eine große Motivation.“
Seth lebte lange genug in der Menschenwelt, sodass er wusste, dass bei ihm eine bloße Berührung nicht reichte - anders als bei Bishop. Sein Geist war beständig verwirrt gewesen, seine Bestrafung dafür, dass er ein gefallener Engel war.
Dachte ich zumindest immer.
„Zeig mir deinen Abdruck“, verlangte ich mit möglichst fester Stimme. Ich musste sehen, um zu begreifen. Um zu glauben. Auch wenn mein Bauchgefühl mir bereits sagte, dass ich eigentlich genug Beweise hatte.
Seth zog belustigt eine Augenbraue hoch, dann hob er sein schmutziges T-Shirt an.
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