Gray Kiss (German Edition)
verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre Augen glänzten feucht. „Ich bin nicht wie die anderen Mädchen, die auf Jungs stehen, die sie mies behandeln. Ich kriege das ja immer mit; ein paar meiner Freundinnen sind so bescheuert mit ihren Loser-Freunden, denen sie egal zu sein scheinen. Sie lassen sich betrügen, lassen sich wehtun, lassen sich behandeln wie Dreck, leihen ihnen Geld, das sie nie zurückkriegen. Und kaum kommt die nächste SMS von dem Typ, sind sie wieder ganz Feuer und Flamme. Absolut bescheuert.“
„Ganz deiner Meinung.“
„So bin ich nicht.“
„Glaub mir, Jordan. Das hätte ich auch nicht von dir erwartet.“
Ihr kullerte eine Träne über die Wange, die sie verärgert wegwischte. „Also wieso kann ich ihn dann nicht hassen?“
Das Herz wurde mir schwer. „Ich schätze, weil wahre Liebe sich nicht so schnell zerstören lässt.“
„Das ist echt blöd.“
„Ja, finde ich auch.“ Ich holte tief Luft. „Aber du musst dich wappnen. Für ihn wird sich das Leben nicht mehr bessern. Er hat keine Seele mehr. Er ist ein Gray - vermutlich der letzte in der ganzen Stadt. Wenn die Jungs ihn finden, müssen sie ihn töten. Er stellt eine Bedrohung dar. Es geht nicht anders.“
„Das kann doch nicht sein!“, flüsterte sie.
„Ich wünschte auch, es wäre anders.“
Als wir weiterliefen, blickte sie mich an. „Meinst du das im Ernst?“
Ich nickte. „Natürlich.“
Und dann prallte ich gegen Roths Brustkorb.
Er war stehen geblieben, denn er hatte uns kommen sehen. Und ich hatte es nicht bemerkt, weil ich mit Jordan über ihren Liebeskummer sprach. Bei ihr war alles wirklich noch komplizierter als bei mir.
Ich studierte Roths Gesicht, und mein Herz klopfte laut. „Roth, gut, dass du stehen geblieben bist. Du musst zurück in die Kirche kommen. Die Jungs machen sich Sorgen um dich.“
„Und was ist mit dir, Samantha?“ Er verzog den Mund zu einem unangenehmen Lächeln. „Machst du dir auch Sorgen?“
Er sah alles andere als freundlich aus.
„Ehrlich gesagt, ja. Die Ereignisse gestern Nacht waren schrecklich. Für uns alle. Doch du musst …“
„Shh.“ Er legte den Zeigefinger auf die Lippen. „Hörst du das?“
Ich war still und lauschte. „Was denn?“
„Das war ich, den deine Meinung einen Scheißdreck interessiert. Aber danke, dass du mir das mitgeteilt hast. Glaubst du, mit ein paar Worten ist alles vergessen? Du bist ein Teenager, knapp den Windeln entwachsen. Du wirst nie verstehen, was ich empfinde. Und ich will auch gar nicht, dass du es versuchst. Okay?“ Sein grausames Grinsen wurde breiter. „Allerdings bin ich wirklich froh, dass du mir gefolgt bist, auch wenn du deine Freundin dabeihast. Das stört mich am Ende auch nicht.“
„Und ich dachte, der andere Dämon ist ein Arsch.“ Jordan warf einen geringschätzigen Blick in Roths Richtung. „Hab mich wohl geirrt.“
Ich runzelte die Stirn. „Du bist froh, dass ich dir gefolgt bin? Was meinst du damit?“
„Er hat gemeint, du würdest es tun.“ Roth zuckte mit den Schultern. „Und schon tust tu es. Genau dahin, wo ich dich haben wollte.“ Er drehte sich einmal um sich selbst. „Okay, sie ist hier. Ich habe erledigt, was du wolltest. Bringen wir es hinter uns.“
Plötzlich erkannte ich, wo wir waren. Es war das ehemalige Lebensmittelgeschäft. Es war geschlossen, das Schild über der Tür war kaputt, der Parkplatz daneben lag dunkel und leer da.
Diesen Ort hatte ich schon einmal gesehen: in meiner Vision.
Es schnürte mir die Kehle zu. „Was ist hier los? Wer wollte, dass du mich hierher lockst.“
Eine einzige Straßenlaterne funktionierte und warf ihren Lichtkegel auf eine Gestalt, die plötzlich aus dem Dunkeln auftauchte.
„Mein wunderschöner Stern“, begrüßte mich Seth breit lächelnd. „Du bist hier, wie schön.“
Ein Teil von mir war erleichtert, ihn zu sehen. Der andere nicht, im Gegenteil. Seth hatte in meiner Nachtod-Erfahrung eine entscheidende Rolle gespielt. „Seth … Was tust du denn hier? Kennst du Roth etwa?“
Er zog eine Augenbraue hoch und schaute den Dämon an. „Erst seit Kurzem, aber ja.“
Ich betrachtete den gefallenen Engel genauer. Seine Kleidung war schmutzig und abgetragen, wie üblich. Sein Bart schien noch verfilzter zu sein als bei unserer letzten Begegnung, am Abend nach dem Ambrosia. Die seltsamen Narben auf seinen Armen waren noch größer und dunkler geworden. Sie erstreckten sich jetzt auch auf seinen Hals.
„Ähm, und wer ist jetzt
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