Gray Kiss (German Edition)
mir angewöhnen, ab jetzt immer zusätzliches Busgeld mitzunehmen, wenn ich aus dem Haus ging. Ich meine, ich habe überhaupt nichts gegen einen Spaziergang einzuwenden, im Gegenteil. Ich liebe es, mir frischen Wind um die Nase wehen zu lassen und einen klaren Kopf zu kriegen, aber das hier war einfach nur lächerlich.
Wir passierten ein paar Obdachlose, die vor geschlossenen Geschäften saßen. Rasch schaute ich mir ihre Gesichter an, doch keiner von ihnen war die Person, nach der ich suchte.
Irgendwo in der Stadt gab es einen obdachlosen Mann namens Seth. Wie Bishop war auch er ein gefallener Engel, allerdings schon seit langer Zeit. Ich wusste, dass er dem Team helfen konnte, wenn ich sie miteinander bekannt machte, aber seit einer Woche hatte ich ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen. Langsam glaubte ich schon, ich hätte mir seine Existenz nur eingebildet.
Aber er war echt. Carly kannte ihn auch.
Ich werde dich finden, Seth. Das schwöre ich. Ich muss noch mal mit dir sprechen .
Cassandra blieb stehen und beobachtete ein Liebespaar in einer Seitenstraße. Die Straßenlaternen warfen gespenstische Schatten auf die Bürgersteige und Backsteinmauern.
„Es ist unhöflich, Leuten beim Knutschen zuzugucken“, stellte ich fest.
„Ist es das, was die beiden machen?“
„Ja. Ich meine …“ Ich verstummte. Auf den ersten Blick war ich davon ausgegangen, dass die beiden sich leidenschaftlich küssten und die Welt um sich herum vergessen hatten.
Aber bei näherem Hinsehen …
Noch bevor ich etwas sagen oder tun konnte, lief Cassandra auf das Paar zu und riss den Mann am Arm.
Er unterbrach den Kuss und drehte sich zu ihr um. Seine Augen waren schwarz und seine Haut so hell, dass sie in der Dunkelheit zu leuchten schien.
Ein Gray.
Ich wandte meinen Blick voller Horror auf seine Freundin - oder besser: sein Opfer - die denselben Gesichtsausdruck angenommen hatte wie vorhin Colin. Glasige Augen, Benommenheit, die verräterischen schwarzen Linien um den Mund. Sie fiel zu Boden.
Außer uns hatte niemand etwas von dem Vorfall mitgekriegt. Wir waren knapp fünfzehn Meter von der Hauptstraße entfernt.
Der Gray war etwa Anfang zwanzig. Als seine Blässe verschwand und seine Augen wieder menschlich geworden waren, sah er ganz gut aus.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er ruhig und fuhr sich mit der Hand über den Mund, um die Lippenstiftspuren seines Opfers wegzuwischen.
Cassandra ballte ihre Hände zu Fäusten. „Ich weiß, was du bist.“
„Ach ja?“ Er schaute den blonden Engel fragend an, der ihn bei seinem unheilvollen Kuss gestört hatte.
Das auf dem Boden liegende Mädchen regte sich nicht. Seine Augen blieben glasig und es erwachte nicht, so wie es glücklicherweise bei Colin der Fall gewesen war. Auch die schwarzen Linien verschwanden nicht.
„Oh Gott, nein“, flüsterte ich.
Der Gray hatte sich ihre ganze Seele einverleibt, und das Mädchen war nicht stark genug, damit sie das überlebte.
„Sie ist tot“, rief ich laut. Mir drehte sich der Magen um. „Du hast sie umgebracht!“
„So ein Pech“, erwiderte er emotionslos. „Sie hat sehr gut geschmeckt.“
Cassandra feuerte einen wütenden Blick auf ihn ab. „Ihr seid böse. Eine Plage für diese Stadt. Für die ganze Welt. Ihr müsst vernichtet werden.“
Er lachte. „Viel Erfolg damit!“
Sie nahm keine Waffe zur Hand, sie trat einfach einen Schritt auf ihn zu. Ich hielt den Atem an und wagte es nicht, noch einmal das tote Mädchen anzusehen. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Der Ablauf des seelenraubenden Kusses war mir natürlich nicht neu, aber ein Kuss mit tödlicher Wirkung schon.
Das war gleichzeitig der Beweis dafür, dass der Kuss eines Grays tödlich sein konnte. Und dass mein gieriges Verlangen, das ich jeden Tag verspürte, zu einhundert Prozent böse war.
Ich hatte kein Mitleid mit dem Gray. Vielmehr war ich rasend vor Wut. Ich wünschte, Cassandra würde ihn auf der Stelle töten. Schließlich war sie eine Kriegerin, da war ich mir sicher.
Der Gray beobachtete amüsiert, wie sie näher kam. „Du bist wohl eine von denen, von denen ich gehört habe. Die uns davon abhalten wollen, in dieser Stadt Spaß zu haben.“
Mit ausgestreckten Armen sprang Cassandra auf ihn los, um ihn zu erwürgen. Doch mit einer raschen Bewegung hatte er sich ihre Handgelenke geschnappt und schubste sie weg. Sie flog durch die Luft und prallte auf der anderen Straßenseite gegen eine Mauer. Es gab ein schmatzendes Geräusch.
Bewusstlos
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