Gray Kiss (German Edition)
Quarantäne - und so würde es noch sein, wenn wir alle schon längst tot waren.
Natalie war klar gewesen, was ich bin. Und da ich nun mal die Tochter eines Engels und eines Dämons war, dachte sie, dass meine Nexus-Fähigkeiten ihr auf ihrem Rache- und Zerstörungsfeldzug dienlich sein könnten. Zu diesem Zweck befahl sie Stephen, mir mit einem Kuss meine Seele zu stehlen. Wie hatte sie es umschrieben? „Den Deckel vom Gefäß entfernen“. Meine Seele war der Deckel, der mir meine übernatürlichen Fähigkeiten vorenthielt und sie blockierte. Sobald sie entfernt war, würden die seltsamen, beängstigenden Talente in mir frei. Meine Tante versprach mir, sie sei die Einzige, die mich zu meinem leiblichen Vater bringen könnte, der immer noch lebte … irgendwo. Ich vermutete, dass er immer noch im Schwarz gefangen war.
Und obwohl mir meine Tante dieses „Upgrade“ als etwas Positives und Nützliches schilderte, musste ich nun mit den unangenehmen Gelüsten eines Gray fertigwerden. Sie hatte mir gesagt, bei mir würden die Gelüste nachlassen, da ich kein reiner Mensch sei.
Die Frau hatte in vielen Dingen gelogen.
Eine Woche war vergangen, seit sie getötet worden war - und mein Hunger war schlimmer als je zuvor.
Natalie hatte versagt. Sie war gestorben, ehe ich mehr Informationen über den Aufenthaltsort meines Vaters erhalten konnte. Vor ihrem Tod hatte sie Bishop mit seinem Dolch gequält. So zwang sie mich dazu, das zu machen, was sie von mir verlangte. Und das hätte auch beinahe geklappt. Denn ich stand kurz davor, alles zu tun, nur damit sie Bishop verschonte. Wahrscheinlich war das der Moment gewesen, in dem er erkannt hatte, welche Wirkung die Verletzung durch seinen Dolch bei ihm auslöste: Seine Verwirrung verschwand.
„Bist du in Ordnung?“ Cassandra berührte meinen Arm und riss mich damit aus meinen düsteren Erinnerungen.
„Ja, alles bestens.“ Zitternd holte ich Luft und schaute in den Himmel. Er war dunkel und klar und von Sternen bedeckt. Meine Augen brannten, doch ich schluckte die Tränen herunter.
Ich versuchte, tapfer zu lächeln, aber es war alles noch zu neu für mich. Gerade war ich noch eine ganz normale Highschool-Schülerin gewesen, die probierte, mit möglichst guten Noten auf eine erfolgreiche Zukunft hinzuarbeiten. Und inzwischen wusste ich nicht einmal mehr, ob ich überhaupt eine Zukunft hatte.
Angst war kein Freund. Meine Angst schwächte mich. Und ich durfte nicht schwach sein.
Also weigerte ich mich ab jetzt, vor diesem Engel Angst zu haben. Ich weigerte mich auch, mich vor meiner Zukunft zu fürchten. Ich hatte hier die Kontrolle. Sobald ich Stephen erst einmal aufgespürt hatte, würde alles wieder besser werden. Natürlich würde mein Leben nie mehr so wie früher sein, nie mehr das, was ich bisher als normal empfunden hatte. Allerdings würde ich genügend Zeit haben, mir über alles klar zu werden. Es verschaffte mir die Chance, Carly wiederzufinden. Wenn es meiner Tante gelungen war, aus dem Schwarz zu fliehen, konnte sie das ja wohl verdammt noch mal auch!
Aber ich sollte mich lieber mit produktiveren Gedanken beschäftigen. Sofort.
„Kann man Bishop denn helfen?“, erkundigte ich mich. „Eigentlich ist er ja gar kein richtiger gefallener Engel. Jemand hat ihm übel mitgespielt. Jedoch hat er mir den Eindruck vermittelt, dieser Zustand sei von Dauer.“
„Es gibt nur wenige Engel, die die Gabe besitzen, eine neue Seele in einen gefallenen Engel einzubrennen. Dieser Prozess wird normalerweise nicht rückgängig gemacht.“
„Aber es war doch ein Irrtum! Man muss bei ihm eine Ausnahme machen!“
„Ich bin ganz deiner Meinung und hoffe, dass man sich dafür entscheiden wird.“ Sie zog die Augenbrauen zusammen. „Er meistert die Schwierigkeiten mit bewundernswerter Stärke. Ein erstaunlicher Mann, nicht wahr?“
„Ja, das ist er.“ Ich fand, sie hatte in allen Punkten recht. Trotzdem störte es mich, dass sie so beeindruckt von Bishop war. Ich versuchte, meine eifersüchtigen Gefühle abzustreifen und in die Ecke zu werfen wie ein paar schmutzige Socken. Sie waren überflüssig und stanken.
Inzwischen hatten wir die dunkle und heruntergekommene Gegend, in der sich die Kirche befand, hinter uns gelassen. Hier war wieder mehr los, vor uns erstreckte sich die Hauptstraße mit ihren Restaurants. Nicht weit entfernt lag die Shoppingmeile, die als Promenade bekannt war.
Bis zu mir nach Hause dauerte es allerdings noch gut zwanzig Minuten.
Ich musste
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