Gray Kiss (German Edition)
Achseln. „Ich kenne die Wahrheit nicht. Ich habe nur mitgekriegt, dass er ein Workaholic war. Total ehrgeizig. Er nahm jeden Auftrag bereitwillig an, den man ihm anbot, als wollte er etwas beweisen. Offen gestanden, hatte ich erwartet, dass er ein echter Arsch ist. Vielleicht hat er durch seinen Fall ja gewisse Verhaltensmuster abgelegt. Doch dass Bishop und Kraven mal Brüder waren …“ Er warf besagtem Engel einen Blick zu. „Ich meine, das wundert mich schon.“
Mich auch. Ich wunderte mich viel zu sehr über die beiden und was all das wohl zu bedeuten hatte. Es war für mich zu einem drängenden Bedürfnis geworden, ihr Geheimnis zu lüften, wie und warum einer von ihnen ein Engel und der andere ein Dämon geworden war.
„Tu mir einen Gefallen, Samantha“, bat Zach.
„Klar“, antwortete ich. „Natürlich. Was denn?“
„Verlieb dich nicht in ihn.“
Ich starrte ihn an - und wurde rot. „Wie bitte?“
Er besaß den Anstand, mich ebenfalls peinlich berührt anzusehen. „Die Liebe … Na ja. Sie lässt Menschen verrückte Dinge tun, selbst wenn sie eigentlich keine Verrückten sind. Ich möchte nicht, dass du verletzt wirst.“
Ich biss mir so stark auf die Unterlippe, dass sie beinahe blutete. Aus dem Augenwinkel verfolgte ich, dass Cassandra Bishop umarmte.
Verdammt, sie umarmte ihn!
Ich schluckte. „Hast du heute Nacht noch mehr schlaue Tipps auf Lager, Zach?“
„Ja.“ Er beugte sich ganz nah an mich heran und flüsterte: „Sei vorsichtig, was Cassandra betriff. Den Urgöttlichen geht eine Mission erfahrungsgemäß über alles - sie nehmen sie absolut ernst und stellen ihre Anweisungen niemals infrage. Genau zu diesem Zweck wurden sie erschaffen: um dem Himmel in der nötigen Weise zu dienen. Ich habe keine Ahnung, wieso man sie hergeschickt hat, aber ganz egal, was sie selbst behauptet: Bestimmt nicht deswegen, dass sie uns bei der Patrouille unterstützt.“
Mehr konnte er nicht sagen, denn Cassandra stand plötzlich vor uns, bereit aufzubrechen. Ich verrenkte mir den Hals nach Bishop; allerdings scheuchte sie mich aus der Kirche, ohne dass ich mich von ihm verabschieden konnte.
5. KAPITEL
Cassandra hatte also beschlossen, bei mir zu wohnen. In meinem Haus. Und ich hatte in der Angelegenheit offensichtlich nichts zu melden.
Das machte mich rasend. Sie war keine Freundin, die Hilfe brauchte. Sie war ein ungebetener Gast, der in mein Leben geplatzt war. Wäre sie irgendein Mädchen aus meiner Schule, würde ich alles tun, damit sich unsere Wege nicht kreuzten. Aber so war es ja nicht.
Sie sah zwar genauso harmlos aus wie ich, aber sie war alles andere als harmlos.
Ich beobachtete sie vorsichtig, als wir aus Apostelkirche traten und zurück in die Innenstadt liefen. Die hohen Bürogebäude und das St.-Edwards-Trinity-Hospital leuchteten hell in der Ferne. Ich schlang meinen Mantel enger um mich, um die Kälte zu vertreiben, die mich heftig zittern ließ.
Noch waren wir in dem verlassenen Teil der Stadt, einem ehemaligen Industriegebiet. Nach der Wirtschaftskrise vor einiger Zeit waren viele der Geschäfte und Unternehmen pleitegegangen und hatten dichtgemacht. Normalerweise würde ich mich nachts nicht hier herumtreiben, weder allein noch in Begleitung. Allerdings wusste Cassandra sich ja zu verteidigen. Sie mochte blond und hübsch sein, aber sie war auch eine Kriegerin. Genauso wie die Jungs. Vielleicht sogar noch mehr.
Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ich fand, sie war der blanke Horror.
„Weißt du“, meinte sie, nachdem wir fast eine Viertelstunde schweigend nebeneinander hermarschiert waren, „ich bekomme langsam den Eindruck, dass du mich nicht sonderlich gut leiden kannst.“
Leider sprach mein Gesicht Bände.
„Du musst keine Angst vor mir haben“, fügte sie hinzu.
Ich schluckte. „Ich habe keine Angst.“
Angst war auch nicht das richtige Wort. Wie gesagt: Sie war der blanke Horror.
„Wenn Bishop behauptet, du kannst deinen Gelüsten widerstehen, habe ich überhaupt keinen Zweifel daran, dass seine Einschätzung stimmt. Auf mich wirkst du wie ein ganz normaler Mensch. Nur etwas interessanter.“
„Ich habe keine Angst“, wiederholte ich etwas eindringlicher.
Sie lächelte. „Wenn du das sagst.“
Ich musste meine Gefühle irgendwie in den Griff kriegen - auch wenn ich mich damit nur selbst täuschte. Es war noch ein langer Weg nach Hause, und ich hatte mein Busgeld für die Nachos ausgegeben und für den Eintritt. Ich hatte ja keine Ahnung gehabt,
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