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Grayday

Grayday

Titel: Grayday Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hari Kunzru
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arbeite, wich er aus und sagte irgendwas von persönlichen Projekten. Als es halb elf wurde, sah er auf seine Uhr und sagte, er müsse gehen.
    »Morgen früh raus?«
    »Ich glaube schon. Ich habe zu tun.«
    »Wo ist denn Ihr Wagen? Haben Sie ihn bei Microsoft stehen lassen?«
    »Nein. Ich habe kein Auto. Ich gehe zu Fuß nach Hause.«
    Stück für Stück kam es heraus. Er fuhr nicht Auto? Chris war aufrichtig entsetzt, fragte sich einen sprachlosen Augenblick lang, ob das eine Art frommer Hindu-Schrulle sei wie bei orthodoxen Juden, die am Sabbat kein Toilettenpapier abreißen dürfen.
    »Das muss anstrengend für Sie sein.«
    »Es ist in Ordnung. Ich gehe gern zu Fuß. Da habe ich Zeit zum Nachdenken.«
    »Wie wär’s mit einem Fahrrad?«, schlug einer von den anderen vor.
    Arjun nickte unsicher. Chris merkte, wie sich einer von diesen Dritte-Margarita-Sätzen auf ihren Lippen bildete.
    »Ich bring es Ihnen bei.«
    »Was?«
    »Autofahren. Wenn Sie möchten, bringe ich es Ihnen bei. Ich bin eine gute Lehrerin. Ich habe ausgeprägte interpersonelle Fähigkeiten.«
    Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Wirklich?«, sagte er. »Sie meinen es ernst?«
    »Klar.«
    »Toll. Das ist einfach – einfach toll. Phantastisch! Wissen Sie was, Chris, Sie sind wirklich sehr nett.«
    Aus dem Mund von jemand anderem hätte es sich ironisch angehört.
    Schließlich wurde er von einem der Microsoft-Typen mitgenommen, der in der Nähe von Berry Acres wohnte. Chris trank Margarita numero quattro und fragte sich, worauf sie sich da eingelassen habe.

O kay, drehen Sie jetzt das Steuerrad. So ist es richtig – nein – andere Richtung, beim ersten Mal war’s okay. Na, sehen Sie. Achten Sie auf den Verkehr. Spiegel. Blinker. Jetzt langsam losfahren …
    Arjun das Autofahren beizubringen erwies sich als – na ja, als die sicher nicht unstressigste Tätigkeit, die Chris je auf sich genommen hatte. Mehr als einmal sprach sie ein Gebet für die Spiegel des Hondas, und die vordere Stoßstange zog bei einem leichten Zusammenstoß mit einem hölzernen Pflanzbecken auf dem Virugenix-Parkplatz den Kürzeren.
    »Langsamer, Arjun. Bremsen … bremsen!«
    Der Wagen war sowieso eine Dreckskarre, Chris blieb also wegen des Sachschadens relativ gelassen. Wie sie die Sache sah, war die erste Stunde mit Einschränkungen ein Erfolg gewesen, wenn man von dem merkwürdigen Augenblick absah, als Arjun in Tränen ausgebrochen war. Zwei oder drei Fahrstunden später konnte er den Wagen halbwegs geradeaus fahren. Er verstand die Grundregeln der Straße, und dann und wann schien er sogar andere Verkehrsteilnehmer wahrzunehmen. Nach einer äußerst angespannten einstündigen 25-km/h-Fahrt durch Redmond hatte Chris gewöhnlich einen Drink nötig, was dazu führte, dass die beiden Stammgäste in Jimmys Brewhouse wurden, einer gemütlichen kleinen Kneipe mit einer Budweiser-Neonreklame im Fenster und einer Auswahl von Mikrobräu-Ales, durch die Arjun sich in streng alphabetischer Reihenfolge arbeitete.
    Chris hatte ihn gern. Wenn er trank, verflog seine Schüchternheit, und er wurde lebhaft, fuchtelte mit den Armen und lachte. Er redete viel über seine weit verzweigte Familie, die mehr Mitglieder als American Express zu haben schien, und er hatte die Angewohnheit, Ereignisse in seinem Leben mit Szenen aus indischen Filmen zu vergleichen. Da Chris nie einen indischen Film gesehen hatte, begriff sie die Parallelen meistens nicht, aber es wurde klar, dass er zumindest Teile seines geheimen Lebens in einer draufgängerischen Welt leidenschaftlicher Liebesaffären, Familienfehden, epischer Kämpfe und Massenszenen verbrachte.
    »Du bist doch nicht schwul, oder?«, überlegte sie eines Abends laut, nachdem sie einen Pint von Jimmys Big Bear Porter zu viel intus und alle Förmlichkeiten der Anrede vergessen hatte. Als sie sein niedergeschlagenes Gesicht sah, trat sie eilig den Rückzug an. »Vergiss, was ich gesagt habe.« Später ertappte sie sich dabei, wie sie mit ihm flirtete, ihm mit dem Finger drohte und ihn kokett anlächelte. »Weißt du«, hörte sie sich sagen, »du solltest dir diesen Schnurrbart abrasieren. Ohne den würdest du viel besser aussehen.«
    »Wirklich?«, sagte er. »Meinst du?«
    Am Tag darauf bei der Arbeit war der Schnurrbart weg. Trotz der Alarmglocken in ihrem Kopf gelang es Chris, sich darüber zu freuen. Er sah wirklich besser aus.
    An einem anderen Abend arbeiteten sie sich in Jimmy’s ein bisschen zu weit durchs Alphabet.

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