Grayday
Erweiterung ihres Horizonts. Arjun sah aus, als habe ihn jemand neu verkabelt, aber schlecht. Chris war sauer. Toris Freundinnen warfen ihr verliebte Blicke zu und kicherten über Arjun. Zum Glück waren die Mädels auf dem Weg zu einer Party, und als Chris ihnen klargemacht hatte, dass sie nicht mitkäme, stampften sie mit dem schweren Tritt von Maschinistenstiefeln und geschlitztem Drillich davon. Sie blickte ihnen hinterher, erleichtert, dass es nicht zu weiteren Provokationen gekommen war.
Als Nächstes musste sie sich um Arjun kümmern, der völlig erstarrt zu sein schien.
»Du. Wir müssen mal miteinander reden.«
Und so wurde Arjun in ein mexikanisches Lokal mit einem Plastik- bandito vor der Tür geführt, in dem sie bedient wurden, obgleich das Personal bereits die Stühle übereinander stapelte und die Tische abwischte, und dort bekam er zwei Gläser Tequila und einen Crashkurs in zeitgenössischer amerikanischer Sexualmoral eingetrichtert. Chris, so schien es, lebte und schlief mit Nicolai, und obwohl sie nicht verheiratet waren, war dieses Arrangement seit zwei Jahren ihre Standardeinstellung. Nicolai konnte man zwar zu Recht Chris’ Freund nennen, aber die beiden (und hier fing es an kompliziert zu werden) schliefen auch mit anderen, und zwar nach Grundsätzen, die sie als offen, aber begrenzt bezeichnete, wobei die Grenze durch den Grad der emotionalen Beziehung zu dem Außenpartner festgelegt war. Während Chris all das erklärte, ergoss sich auf Arjun ein Sturzbach von Gefühlen, darunter Enttäuschung, Eifersucht, Hoffnung, Faszination, sexuelle Erregung und schlechtes Gewissen. Heftig errötend versuchte er seinen inneren Aufruhr zu verbergen. Er machte Chris klar (einfühlsam, wie er meinte), dass ihre Grenzdefinitionen anfechtbar seien und dass ein weniger vages System für die Führung ihrer Beziehung die Verwendung von messbaren Kriterien wie zum Beispiel der ohne den Partner verbrachten Zeit oder der Anwendung bestimmter Sexualpraktiken wäre. Chris sagte, er solle sich auf das konzentrieren, was sie sagte. Arjun wollte gerade darlegen, dass er genau das die ganze Zeit tue, aber etwas in ihrem Gesichtsausdruck ließ ihn innehalten. Er hatte eine Frage.
»Wo ist er her?«
»Wer?«
»Dein Freund. Aus welchem Land kommt er?«
»Nic ist Bulgaroamerikaner. Spielt das eine Rolle?«
»Ach, es war Bulgarisch.«
Er starrte angestrengt auf sein leeres Schnapsglas; selbst in Amerika war es wahrscheinlich ungehörig, Leuten in die Augen zu sehen, während man sich daran erinnerte, welche Geräusche sie beim Beischlaf gemacht hatten. Er war dermaßen mit dem Versuch beschäftigt, dieses Problem zu umschiffen, dass ihm entging, was sie danach gesagt hatte.
»Wie bitte?«
Nein, er hatte richtig gehört. Sie schlief auch mit Frauen, und die Lange mit dem rasierten Schädel war eine davon. Chris war klar, dass Arjun aufgrund seiner Kultur darüber schockiert sein würde, hoffte aber, er werde zumindest versuchen, Vorurteile zu überwinden. Schließlich war es ja nicht so, als schuldete sie ihm eine Erklärung. Sie wollte nur, dass die Dinge klar seien.
Tatsächlich war Arjun mit lesbischer Liebe insofern vertraut, als diese ein bevorzugtes Thema der CD-ROMs war, die Aamir in Gabbar Singh’s Internet Shack zu verkaufen pflegte. Zugegeben, das äußere Erscheinungsbild dieser speziellen Lesbierinnen hatte ihn umgeworfen, zumal alle auf Aamirs Fotos mächtige Frisuren hatten und Spitzenunterwäsche trugen. Aber das war nur eines in einer ganzen Reihe von Problemgebieten in, Chris’ Ausführungen. Er wusste nicht richtig, wo er anfangen sollte. In verwirrenden Situationen war es ihm oft hilfreich erschienen, die Begriffe zu definieren, ehe man weiterredete.
»Gibt es ein Wort für jemanden wie dich?«
»Hallo? Denk gefälligst nach, bevor du redest, Freundchen.«
»Du bist bisexuell, ja?«
»Bei dir hört sich das an wie eine Krankheit.«
»Oh, du meinst also, es hat eine physiologische Grundlage?«
Aus irgendeinem Grund schien die Frage Chris wütend zu machen, und sie stürmte aus der Bar. Arjun vergaß nicht, ein Trinkgeld für den Barkeeper hinzulegen, bevor er ihr nach draußen folgte. Vier Drinks. Einen, zwei, drei, vier Eindollarscheine klemmte er unter ein Glas. Er versuchte, den Stimmungsumschwung in Lauftempo umzusetzen. Christine Schnorr war ein fremdes Wesen (welches indische Mädchen trüge wohl solche Tätowierungen zur Schau?), und ihre ungewöhnlichen Verhaltensnormen gehörten
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