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Grayday

Grayday

Titel: Grayday Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hari Kunzru
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mit diesen Computern Kontakt aufzunehmen. Nur einer antwortet, ein PC, der irgendwo in den Vororten von Paris steht und den sein Besitzer, ein Assistenzarzt namens Patrice, an eine Breitbandverbindung angeschlossen hat, damit er Flugsimulationen des Zweiten Weltkriegs laufen lassen kann. Manchmal denkt Patrice, lieber wäre er ein Kampfflieger-Ass als ein Doktor mit einer lausigen Wohnung in einem miesen Stadtteil. Patrice lässt seinen Computer gern ununterbrochen laufen. Gerade jetzt (es ist früher Donnerstagmorgen in Paris) ist er noch im Krankenhaus und kann also nicht sehen, wie badmAsh eine Verbindung zu dem Trojanischen Pferd herstellt, eine Reihe von Befehlen an seinen Computer sendet und dessen E-Mail-Software unter seine Kontrolle bringt.
    Zwischen 6.50 und 9.23 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit (CEST), als Patrice nach Hause kommt, durch einen Schleier von Müdigkeit erkennt, dass etwas Seltsames vor sich geht, und den Stecker aus der Wand zieht, versendet sein Computer in einem Dauerstrom E-Mails, die sich an Hunderttausende von Menschen in der ganzen Welt mit der Mitteilung wenden:

    Hi. Ich sah das und dachte an dich.

    Um 14.05 Uhr (KST) kommt der fünfzehnjährige Kim Young Sam, der seine Englischstunde in der Science High School von Seoul schwänzt, mit einer Schüssel Fertignudeln aus der Mikrowelle in sein Zimmer und fragt sich, warum er eine E-Mail aus Frankreich bekommen hat. Er öffnet sie und klickt auf den Anhang. Nichts geschieht. Als zehn Minuten später sein Computer Kopien der E-Mail an alle Leute in seinem Adressbuch verschickt, bemerkt er es nicht, weil er eingeschlafen ist.
    Kelly Degrassi, an Schlaflosigkeit leidend, Mutter, Empfangsdame im Büro der Holy Mount Zion Church in Fort Scott, Kansas, öffnet die E-Mail und klickt.
    Darren Pinkney (Milchbauer in Ballarat, Australien) klickt.
    Altaaf Malik (Student, Leela-Zahir-Fan, Haiderabad, Indien) klickt und ist enttäuscht. Keine Fotos.
    Zehn Minuten, nachdem die erste Mail Patrices Computer verlassen hat, haben vierzig weitere Leute sie unwissentlich an ihre Freunde und Kontaktpersonen verschickt. Eine halbe Stunde später haben es achthundert getan. Als Patrice die Technik-Hotline seines Internetproviders anruft, um zu sagen, dass er glaubt, mit seiner Verbindung stimme etwas nicht, hat die Mail, die das enthält, was später unter dem Namen »erste Spielart Leela-Virus« oder Leela01 bekannt wird, bereits den Weg zu über siebzehntausend Festplatten in der ganzen Welt gefunden.

D ie Wahrheit ist, dass Leela nicht nur ein Ding war. Sie war nicht einmal nur eine Reihe oder Gruppe oder Familie. Sie war ein Schwarm, eine Horde. Zur selben Zeit, als Leela01 über E-Mails verbreitet wurde, wurden andere Leelas, andere Dinge mit ihrem Gesicht, zu Shareware-Sites upgeloaded, bahnten sich ihren Weg in Webserver, um als Cookies verteilt zu werden, und pflanzten sich in einem Wahnsinnstempo durch Peer-to-Peer-Netze fort. Es gab Versionen von ihr, die völlig mit der Vergangenheit brachen, die auf die komplexen Betriebssysteme zielten, die von Firmen und Universitäten benutzt wurden, auf die abgespeckten, die für Handys und Terminplaner entwickelt waren. So viele Leelas. So viele Mädchen mit demselben Gesicht.
    Die Schönheit all dieser Varianten, ihr Zauber, der so viele Menschen unerwartet einfing, lag in ihrer Verwandlungskraft. Seit sich das erste Virus irgendwann in den achtziger Jahren auf die erste ungeschützte Festplatte geschlichen hatte, war ein Evolutionsprozess vonstatten gegangen, ein Wettrüsten zwischen Virusautoren und -Scannern, das neue und unerwartete Mutationen hervorbrachte. Zu Anfang brauchten die Sucher nichts weiter zu tun, als ein Virenmuster einzufangen und Software zu schreiben, die nach einer verräterischen Spur oder Signatur Ausschau hielt. Daher begannen die Viren Verschlüsselungen zu benutzen, um sich zu verstecken, und die Sucher reagierten darauf, indem sie Jagd auf die Entschlüsselungsroutinen machten. Bald begannen die Viren in vielerlei Formen aufzutauchen. Die Sucher entwickelten sich mit ihnen und lernten, nicht nur die Signaturen aufzuspüren, sondern auch ihr verräterisches Verhalten. Unerwartete Ereignisse konnten Anzeichen eines Befalls sein. Änderungen der Dateigröße. Unerlaubte Modifizierungen.
    Leela war ein Schritt über all das hinaus. Sie konnte ganz nach Lust und Laune neue Formen annehmen und blieb nie lange genug unverändert, um ermittelt und erkannt zu werden. Jede Generation

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