Grayday
riesigen, an ein Auge erinnernden Glasoval untergebracht war, das auf Mezzaninhöhe über der Rezeption schwebte. Die elektronische Rundumüberwachung des Komplexes war für die Geschäftskunden ein wichtiger Pluspunkt. Treppenabsätze, Treppenhäuser, Gärten, Flussufer – alles war abgesichert. Das Oval sollte beruhigend wirken, ein Symbol der Sicherheit, aber kürzlich hatte Guy festgestellt, dass die gelangweilten Männer und ihr ständig wechselnder panoptikumartiger Anblick die gegenteilige Wirkung hatten. Meist beschleunigte er unwillkürlich seine Schritte, wenn er unter den Rauchglas-Kamerakuppeln auf dem Parkplatz vorbeiging. Und wenn er seinen Schlüssel in die Wohnungstür steckte, fühlte er sich ertappt. Sie hinter sich zu schließen war eine Wohltat voller Schuldgefühle.
Er ignorierte den Abschiedsgruß des Pförtners und fuhr mit dem Aufzug in die fünfte Etage. Wie üblich war das Stockwerk wie ausgestorben, es sei denn, man ließ die quasi menschliche Erscheinung der Yuccabäume gelten, die an jeder Tür Wache standen. Apartment Nummer 124 roch drinnen unangenehm nach Zigarettenrauch. Der Couchtisch war mit weißem Pulver und Fingerabdrücken beschmiert. Ein Trio leerer Moet-Flaschen und ein schmutziger Aschenbecher standen auf der Corian-Arbeitsfläche in der Küche. Gabriella hatte offenbar Gäste gehabt. Guy ließ seine Kleider auf den Schlafzimmerteppich fallen, ging unter die Dusche und blieb volle zehn Minuten unter dem entspannenden Heißwasserschwall stehen. Dann rasierte er sich, suchte sich aus seinem Kleiderschrank mit der Stahlfront frische Sachen zusammen und trottete barfuß über die Schieferkacheln zurück in die Küche, um sich an seiner riesigen Espressomaschine Kaffee zu machen, eine Tätigkeit, die ihn stets einen befriedigenden lokführerhaften Kitzel verspüren ließ.
Guy hatte bereits vor seinem Einzug gewusst, welch anspruchsvolle Aufgabe die Einrichtung dieser Wohnung war. Da es ihm sowohl an Zeit als auch an Kenntnissen fehlte, hatte er (auf Vorschlag der attraktiven brünetten Vermögensberaterin) eine Agentur engagiert, die ihm beim Möbelkauf behilflich war. Auf diese Weise, hatte er überlegt, könne er sicher sein, dass alles in seiner persönlichen Umgebung von allerbestem Geschmack sei. Und so war alles persönlich, individuell, trug seine Handschrift: der weiße Ledertisch mit der Cityvorwahl des Flughafens als Ausschneidemotiv, der Kronleuchter aus in Keramik gegossenen CDs, die Ottomane aus Vicuñaleder, das ergonomische dänische Salatbesteck und die Wegwerf-Obstschalen aus Pappe, die mattschwarz mit Pulverlack überzogenen Stahlwürfel neben der Konversationsmulde, der an Drahtseilen hängende Polyvinyl-Kosmetikkoffer im Vuitton-Dekor, an den er den Plasmabildschirm und die Phalanx der Induktionslautsprecher montiert hatte, die gestrickten ornamentalen Vogelschwärme an der Schlafzimmerdecke und die niedrigen Terrassenmöbel aus Teakholz auf dem Balkon. Dies alles, jeder einzelne sandgestrahlte Badezimmerhahn, war er, Guy Swift, persönlich.
Die Kunst auszuwählen war das Leichteste gewesen. Bei einer Online-Galerie (eine weitere Anregung von Tania, der Vermögensberaterin) hatte er auf mehrere Cibachrome-Fotos gezeigt: stark vergrößerte Stadtdetailansichten, Einstiegsluken, unscharfe Schlafwagen, Tauben und so weiter, dazu die bewusst falsch entwickelte Aufnahme eines Industriegebietes in Dalston, wo er einmal bei einer Produktpremiere gewesen war. Um sich eine Freude zu machen, hatte er außerdem zwei Wandtafeln aus Neonröhren und eine Skulptur aus zwei ineinander greifenden Stahlkreisen gekauft, die, versicherte die Galerie, auf den Kopfmaßen eines ganz bestimmten Supermodels beruhten.
Er schob die Glastüren auf und trank schlückchenweise seinen Doppio, während er auf die Themse blickte. Autos rollten über die Brücken. Ein Müllkahn glitt vorbei, auf seinem Weg zu einer Müllgrube flussabwärts. Obwohl er die Aussicht liebte, ertappte er sich bei dem Gedanken, wie viel schöner sie noch von weiter oben wäre. In den oberen Etagen von In Vitro gab es ein paar hinreißende Penthäuser, und auf der Spitze befand sich ein einzelner zweistöckiger Würfel aus Glaswänden mit schwimmendem Terrassenboden, ein schmuckloser Rohbau, der noch keinen Käufer gefunden hatte. Manchmal, wenn Guy zufällig das Gebäude aus der Ferne sah, stellte er sich dort oben in diesem Penthaus vor, wie er ganz London mit seinem Blick erfasste.
Einige Regentropfen
Weitere Kostenlose Bücher