Graz - Novelle
schloss ich meine Augen und ließ dem leidenden Ton, den ich in meiner Kehle unterdrückt hatte, freien Lauf. Ich denke nicht, dass es ein Ton des Kummers war. Manchmal ist meine Lunge zu klein.
Ich ging mit bleischweren Schuhen die Treppen hinauf. Ich wusste, dass nicht der Aufstieg mich Mühe kostete. Es war die oberste Stufe, die mich abstieß.
Hinter der obersten Stufe lag meine Wohnung.
Ich blieb einen Augenblick in der Tür stehen und blickte zu meinem Arbeitstisch im Licht, zur Frau, die die leuchtende Kugel stemmte, zu dem aufgeschlagenen Buch unter der Schimmerlampe neben dem Sofa, zum Dunkel hinter dem Paravent, wo das große Bett stand.
Manchmal fiel mir auf, dass ich nicht Herr über mein eigenes Leben war. Manchmal dachte ich, dass ich das Leben meines Vaters führte. Manchmal sah ich, dass ich stillstand. Der Platz neben mir im Bett wäre nicht leer gewesen, wenn meine Mutter noch gelebt hätte. Manchmal sah ich das. Dann sah ich sie da liegen.
Sie hob ihren Kopf aus den Kissen und schaute über die Schulter und fragte mit einer Stimme, rau wie Schleifpapier, wo ich mich in Gottes Namen die ganze Zeit herumgetrieben habe.
„So lange warst du noch nie spazieren“, sagte sie und ließ den Kopf brabbelnd in die Kissen zurückfallen, schwer von Sorge, wohlmerklich der Sorge von Jahren.
Im Flur zog ich die Schuhe aus. Die Jacke hing ich achtlos auf. Sie glitt von der Garderobe. Ich ließ sie liegen, wo sie hinfiel. Dann folgte ich dem gewohnten Rhythmus.
In die Seite des Buches auf dem Sofa knickte ich ein Ohr. Ich legte das Buch weg, für morgen. Während ich die Lichter ausmachte, knöpfte ich das Hemd auf. Die Lampe über meinem Schreibtisch ging aus, die Frau mit der Kugel in der Fensterbank, die Schimmerlampe, das Licht im Gang. In der Küche sah ich nach, ob alle Knöpfe am Herd zugedreht waren.
Neben meinem Bett ließ ich meine Hose fallen. Ich faltete sie, hängte sie über die Lehne des Stuhls neben dem Bett, strich sie glatt. Meine Hand stieß gegen die Brieftasche, die ich gefunden hatte. Ich legte die Brieftasche auf die Hose. Ich legte mich auf das Bett, mit dem vagen Vorhaben, dass ich bald meine Socken ausziehen würde, meine Unterhose, ich sollte das Ritual des Tages vollenden. Ich sollte meinen Unterleib waschen, meinen Oberkörper, meine Zähne putzen, meinen Pyjama anziehen.
Mein Bedürfnis zu liegen war groß.
Es gab wenig Ruhe. Ich hörte meine Gedärme, meine Lunge, mein Blut. Wenn ich besonders genau hinhörte, hörte ich meine Gänsehaut wachsen.
Ich zog das Laken und die Decke über mich und konnte es nicht übers Herz bringen, den leeren Platz neben mir unbedeckt zu lassen. Ich legte das Leintuch und die Decke bis über die leeren Kissen und sagte: „Gute Nacht.“
Ich schlief nicht. Mit der linken Hand suchte ich die schummrige Dunkelheit ab. Ich fand den Stuhl neben dem Bett, die Brieftasche. Ich holte den Ausweis heraus und hielt ihn vor meine Augen. Bei dem geringen Licht, das die Seite des Paravents abgab, konnte ich meine rechte Hand, die Karte, den Namen des Jazzklubs, das Porträt des Jungen in der Mitte unterscheiden.
Ich schloss die Augen und stellte mir im Kopf das Rad, das Mädchen mit dem geknickten Hals, den zögerlichen Hund und das Kind hinter dem Türspalt vor. Ich sah das Licht und die Dunkelheit. Ich sprach den Wunsch aus, dass der Junge noch lebte.
Ich fühlte meine linke Hand hinter meinen Kopf greifen und dachte noch: Tu’s nicht.
Und doch knipste ich die Lampe neben meinem Bett an. Ich überstand den Schmerz in meinem Gehirn. Ich kniff die Augen sofort zusammen, oder halb zusammen, bis sie sich an das Licht gewöhnt hatten, und danach musste ich es wie eine Strafe ertragen, dass ich das Laken und die Decke weit weg zu den Füßen geschoben hatte, und mit dem Daumen und dem Zeigefinger hielt ich meine linke Brustwarze fest. Ich schloss die Augen und lag so eine Zeitlang in Gedanken an meinen Daumen, meinen Zeigefinger, das weggezogene Laken, die Decke und meinen nach unten geschobenen Slip.
Dann wurde ich von einem Hund gerettet.
Ich weiß nicht, ob es der gleiche Hund war, der auch den Verkehr auf der Kreuzung der Annenstraße und des Eggenberger Gürtels regelte. Ich hörte das Gebell in der Ferne und setzte mich an den Bettrand, als ob ich aufrecht besser hören könnte als liegend.
Mir wurde schwindelig. Schwindelig sein war besser als mich schämen.
Ich taumelte aus dem Bett. Ich probierte, das Fenster auf der Seite zur
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