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Graz - Novelle

Graz - Novelle

Titel: Graz - Novelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luftschacht-Verlag <Wien>
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Sätzen. Ich habe die richtigen Worte in der richtigen Reihenfolge wie in einer Schublade griffbereit. Ich nehme sie nur heraus und trage sie vor. Sätze über die Verwendung von Wärmeflaschen, von Orangenblüten, von Thymol. Ich halte kurze Vorträge über Milch. Muttermilch, Kuhmilch, Ziegenmilch, in dieser Reihenfolge. Ich halte Vorträge über die Wirkung von Beeren auf die Verdauung. Ich schließe meine Hinweise auch mit einem ermutigenden Nicken ab und manchmal ertappe ich mich selbst dabei, dass ich meine Hand auf den Unterarm einer Frau lege und ihr noch einmal einen letzten Schubs in die richtige Richtung gebe. Ich gebe den Menschen Kraft mit meinem Lächeln. Zur Frau ohne Haare sage ich, dass alles gut wird. Die Matrone lasse ich im Glauben, dass sie sich ihr Heilmittel selbst ausgedacht hat. In das Ohr eines alten Menschen rufe ich: „Sie sind noch jung!“
    Die Menschen verstehen, was ich meine, und nennen mein Gesicht liebenswert und mein Verhalten zuvorkommend, nur weil ich ihnen etwas Neues erzählen habe können, was sie noch nicht wussten, und auch noch dabei gelächelt habe. Ich hörte dem Geräusch der Schritte der Hertz Mädchen zu, bis sie den Boden fast nicht mehr berührten. Nur in meinen Gedanken rief ich ihnen nach. Meine Gedanken halten nie den Mund.
    Die Welt ließ sich um mich herum nieder. Erst die fernen Kontinente, dann die Berge, dann die Stadt. Ich stand zuerst etwas eingeschüchtert da. Die Straße sah mich an, abwartend. Was hatte ich vor?
    Ich bemerkte, dass neben mir, über die ganze Breite des Gehsteigs und an meinen Füßen vorbei, ein Streifen Licht fiel. Ich schaute mich zum Tor der Hürlimanns um und erinnerte mich vage, dass ich das Tor nach den Absätzen der Hertz Mädchen nicht hatte zufallen hören. Der Spalt überraschte mich nicht, das Licht überraschte mich nicht. Trotzdem stolperte das Herz in meiner Brust.
    Ein Junge schaute links und rechts die Straße entlang. Ich bekam nicht die Chance, ihm zu erzählen, dass die Schritte der Mädchen schon lange im Nichts verschwunden waren. Ich wollte ihm auch sagen, dass er nicht mehr an den Unfall denken sollte. Als unsere Blicke sich kreuzten, schoss sein Oberkörper hoch wie eine Feder. Er sprang nach hinten, drückte das Tor zu, zog es dann wieder einen Spalt auf und spähte weiter. Er rührte sich keinen Millimeter, davon überzeugt, dass ich ihn nicht sah, solange er sich nicht bewegte.
    Ich hatte die Idee, einen Schritt zur Seite zu tun.
    Der Junge reagierte genau so, wie ich es erwartet hatte. Er machte den Spalt breiter. Seine Nase und sein Auge zwängte er dazwischen.
    Zuerst dachte ich, dass es ein dunkler Junge war, ein Kind verschiedener Hautfarben, wie so viele in Bezirken wie Gries wohnen. Es schien, als ob er kurzes Kraushaar hatte. Sein Gesicht fing wenig Licht. Doch dann drehte er seinen Kopf. Zu meinem Erstaunen war er weiß und fast schon durchsichtig, und seine Haare waren millimeterkurz und fast rot. Das Licht, das von innen auf ihn fiel, war gelblich, vielleicht logen die Farben.
    Ich setzte einen Schritt in Richtung des Tors und streckte eine Hand nach ihm aus. Er runzelte seine Stirn, als ob ein zu kurzes Gummiband in seine Augenbrauen genäht worden wäre. Ich war davon überzeugt, dass er nicht aus Angst vor mir zurückwich. Ich dachte, dass er im Sinn hatte, mir das Tor zu öffnen, und einen Sekundenbruchteil lang war ich aufgetaucht, da ich die Chance erkannte, ihn anzusprechen, zu fragen, was er da hinter dem Tor im Schilde führte, und ob er schon lang bei Hürlimann auf bessere Zeiten wartete.
    Das bereute ich wieder. Wie kam ich bloß darauf zu denken, dass ein Junge von gerade einmal zehn keine Angst hätte vor einer Hand, die auf ihn zukommt. Ich würde es auch beängstigend finden, wenn jemand mein Kinn in seine Hand nähme und mein Gesicht anheben würde, um in meine Augen zu sehen. Der Junge kannte diese Geste der Hand nicht als Einladung. Er kannte die Hand als Teil der Bürste, die ihn unsacht sauber schrubbte. Er kannte die Hand als Ding, das ihm eine Ohrfeige verpasste, bevor die echte Strafe folgte.
    Er stieß das Tor knapp vor meiner Nase zu.
    Ich schlug nicht dagegen, aber der Gedanke des Schmerzes fuhr durch meinen Kopf, meinen Hals, mein Rückgrat, und setzte letztendlich meine Beine in Bewegung. Ich überquerte schräg die Straße, steckte den Schlüssel in einer einzigen Bewegung ins Schlüsselloch.
    Als ich das Haustor hinter mir zuhatte und mich mit dem Rücken daranlehnte,

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