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Graz - Novelle

Graz - Novelle

Titel: Graz - Novelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luftschacht-Verlag <Wien>
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konnte ich von drinnen aus in den Himmel hineinsehen.
    „Ja“, sagte ich laut.
    Ich stieg wieder von der Verkehrsinsel herunter und war froh, dass ich herausgefunden hatte, woher das blendende Licht kam. Ich verstehe die Dinge gerne.
    Ich nickte zu dem Platz, wo das Mädchen gelegen hatte, und versuchte mir vorzustellen, was ich alles von der Straße sah, wenn ich in meinem Zimmer dort im ersten Stock hinter meinem Arbeitstisch saß. Ich ging langsamer und blickte auf den Boden hinter mir: auf das Betonstück, das den Teil, wo die Straßenbahn fuhr, abtrennte, den Streifen Asphalt, die Stufe der Betonplatten. Ich wollte weitergehen, aber mein Blick blieb an etwas Dunklem hängen, das im Rinnstein lag. Ich erwartete, eine Schachtel Zigaretten zu finden, ein Stück Karton.
    Zu meiner Überraschung war es eine schwarze, ziemlich neue Brieftasche. An der Innenseite klebte ein Sticker von Greenpeace. Ich fand ein kleines Fach vor, mit einer Karte darin, eine Mitgliedskarte eines Jazzclubs in Linz. Darauf befand sich ein Farbfoto. Ich drehte die Brieftasche näher zur Straßenlaterne, um das Porträt besser sehen zu können, und bewegte sie so lange, bis die Karte weniger glänzte. Ich versteinerte, als ich das Gesicht auf dem Foto erkannte. Auf dem Foto hatte das Mädchen kurzes Haar. Ich las, dass sie aus Graz kam und im März geboren war. Der Jazzclub hieß Count Davis. Die Mitgliedschaft des Mädchens lief noch bis nächstes Jahr. Da stockte mein Atem. Ich hielt die Karte näher an mein Gesicht, um mich zu vergewissern, dass es wahr war, was ich las. Das Mädchen hieß Erhart. Jochen Jonathan Erhart.
    Ich bin mir bewusst, dass es Jungen gibt, die wie Mädchen aussehen, und dass es Mädchen gibt, die wie Jungen aussehen. Ich finde das nicht schlimm. Es gibt nichts, was mich schockiert. Ich habe schon einiges erlebt. Bei mir klingelt es, wenn wieder einmal ein Kranker hereinkommt. Ich selbst habe Angst vor Schmerzen, doch in meinem Geschäft sind alle Qualen willkommen, ganz besonders die chronischen. Auf diesem Gebiet kann ich nur mehr wenig Neues dazulernen. Ich diktiere, ich analysiere. Ich gebe den Dingen ihren Platz zwischen bekömmlich und ungesund, das ist meine Art.
    Ich stopfte die Karte zurück in die Brieftasche, als ob ich mir selbst noch weismachen wollte, dass ich nichts bemerkt hätte, aber ein paar Sekunden später schon musste ich noch einmal und ganz genau hinsehen und ich traute meinen Augen nicht. Es gibt Jungen, die Rosen und Krapfen und Orangen kaufen und aussehen wie außergewöhnlich hübsche Mädchen.

They seem just like other people
.
    WAUGH

Hinter meinem Rücken krächzte das Tor der Hürlimanns. Ich musste nicht hinsehen, es war dieses Tor. Leichte Schritte bewegten sich über den Gehsteig, und wieder musste ich mich nicht umdrehen – ich wusste, von wem sie waren. Es schien, als ob sie auf mich zukamen, aber das wäre ein Wunder gewesen. Die Hertz Mädchen waren mit ihrer Arbeit fertig. Sie schwebten wie Schatten vorbei. Von meinem Fenster im ersten Stock aus verlor ich mich manchmal in dem, was ich sah. Als ich sie wieder so nahe an der Hausmauer stehen sah, dachte ich an ein dunkles Tier. Sie liefen vorsichtig wie Sandkrabben und verbargen ihr Gesicht in ihrem Kragen. Ich glaube, sie hatten Stielaugen. Die Hände hielten sie ein wenig von sich weg, als ob sie sie gerade gewaschen hätten und sie noch trocknen müssten.
    Gerade eben noch fingen die beiden Mädchen das Licht in der Höhe des Restaurants des Parkhotels. Alles war dort warm und aus Kupfer. Sie überquerten die Straße. Auf dem Zebrastreifen wurden sie schneller. Ich dachte, dass sie mir irgendetwas zuflüsterten, etwas, das wie Gute Nacht klang. Ich hätte mit ihnen scherzen können. Ich hätte sie fragen können, was sie noch so spät auf der Straße taten. Ich hätte am Ende meiner Frage einen Schnörkel anfügen können und sozusagen überrascht meine Hände in die Seiten stützen können, fett augenzwinkernd, als ob mein Auge sonst herausfallen würde. Ich hätte es so machen können, ich war der Nachbar von oben, sie kannten mich, ich sah sie fast jeden Abend in die Nacht verschwinden. Noch nie hatten wir ein Wort gewechselt und einmal musste das erste Mal sein. Doch ich schwieg wieder.
    Ich habe den Ruf, gut mit Menschen zu können. Ehrlich gesagt: Dieser Ruf ist mehr Schein. Ich spreche nicht laut, erhebe fast nie meine Stimme, das wird wahrscheinlich als Qualität erkannt. Guter Rat kommt aus mir in schönen

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