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Grazie

Grazie

Titel: Grazie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chelsea Cain
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Parker in einem Wagen mit
Lodge verloren? Es musste ein Irrtum sein. Sie sah Bliss an.
    Es war kein Irrtum.
    Ihr Gesicht legte sich in Falten. »Scheiße.« Sie schloss eine
Minute lang die Augen, um die heißen Tränen zurückzuhalten, die sie zu
vergießen drohte, dann stand sie auf und begann, in einem Pappkarton
mit Kleidung zu wühlen, der in einer Ecke stand.
    »Was hast du vor?«, fragte Bliss.
    Susan fand ein langes schwarzes Baumwollkleid und zog es sich
über. »Ich fahr da hin.«
    »Zur Zeitung?«, fragte Bliss.
    »Zur Brücke. Ich finde heraus, was passiert ist.« Sie kramte
ihr Handy aus der Handtasche und tippte eine Nummer ein.
    Bliss stand auf, ihr Kaftan flatterte im Luftstrom des
Ventilators. »Wen rufst du an?«
    Susan wischte sich mit dem Handrücken eine Träne von der Wange
und setzte das Handy ans Ohr. »Archie Sheridan«, sagte sie.
    Sie zupfte an ihrem Haar, führte eine türkisfarbene Locke an
ihre Nase. Der Popcorngeruch war verschwunden.

_5_
    A Archie stand auf der Fremont Bridge. Sie war
die neueste der zehn Brücken von Portland, eine zweistöckige,
vierspurige Betonautobahn, die sich hoch über den Willamette wölbte und
den Ost- und Westteil der Stadt verband. Die meisten Bewohner Portlands
würden sich zu einer Lieblingsbrücke bekennen: die Hawthorne, die Steel
Bridge, die St. Johns. Nur wenige würden wohl die Fremont nennen. Sie
war ohne Eleganz, funktional; die hellblaue Farbe blätterte vom Beton
wie Haut, die sich nach einem Sonnenbrand schuppt. Aber Archie hatte
sie immer gemocht. Wenn man nach Westen fuhr, bot sie den besten Blick
auf die Stadt, ein weit offenes Panorama nach Norden und Süden, und vor
einem die glitzernde Skyline der Innenstadt, die üppig grünen
westlichen Hügel, der Forest Park, der Fluss, der sich träge nach
Norden schlängelte, alles in ein rosa Leuchten getaucht. Portland
konnte so schön sein, dass Archie bei seinem Anblick manchmal glaubte,
das Herz müsse ihm stehen bleiben.
    »Scheußlich, nicht?«, sagte eine Stimme hinter ihm.
    Archie drehte sich um. Raul Sanchez. Er war ein untersetzter
Mann mit einem gepflegten grauen Bart, kräftigen Armen und einem
Gesicht, das aussah, als wäre es aus Treibholz geschnitzt worden. Er
trug eine dunkelblaue Baseballmütze, auf der in großen weißen Lettern
›FBI‹ stand, und eine Windjacke, auf deren Brust in kleinen weißen
Lettern ›FBI‹ stand. Auf dem Rücken stand es noch mal in großen weißen
Buchstaben.
    »Verzeihung«, sagte Archie. »Sind Sie vom FBI?«
    Sanchez lächelte. »Sie wollen, dass wir uns zu erkennen
geben«, sagte er, und sein mexikanischer Akzent schmiegte sich zart um
die Konsonanten. »Damit uns die Bürger nicht mit den Arschlöchern von
der CIA verwechseln.« Er trat neben Archie. Hinter ihnen stand ein
Großaufgebot an Rettungsfahrzeugen mit roten, weißen, blauen und
orangefarbenen Blinklichtern auf der inzwischen gesperrten Brücke.
    »Sehen Sie sich das an«, sagte Sanchez und stieß das Kinn in
Richtung der blinkenden roten Lichter auf den Handymasten, die sich wie
Geburtstagskerzen auf den Hügeln im Westen erhoben, und auf die hohen
Baukräne, die den aktuellen Boom bei Eigentumswohnungen und Gebieten
mit Mischnutzung anzeigten. »In zehn Jahren sieht es hier aus wie in
L.A.« Er zwinkerte Archie boshaft zu. »Dann strömen Kalifornier über
unsere Grenze. Sie wissen ja, die sind faul. Mähen nicht einmal ihren
Rasen selbst.«
    »Hab ich auch gehört.«
    Sanchez steckte die Hand in die Tasche und wippte auf den
Absätzen seiner Cowboystiefel. »Ist eine Weile her, seit ein Wagen von
einer Brücke geschossen ist«, sagte er. Das farbige Licht der
Einsatzfahrzeuge brach sich auf dem Beton hinter ihm, sodass es aussah,
als stünde er auf der Tanzfläche einer Disco.
    »Zwei in zehn Jahren«, sagte Archie. »Ein Selbstmörder von der
Marquam. Einer wegen Aquaplaning von der Morrison.«
    Sanchez hob den Blick zum klaren Morgenhimmel. »Aquaplaning
war das hier jedenfalls nicht.«
    Archie blickte ebenfalls nach oben. Ein Schwarm Hubschrauber
von Nachrichtensendern schwebte über ihnen, wie Raben, die über etwas
kreisen, das im Wald stirbt. »Ja«, sagte er. Er wusste, was Sanchez
meinte. Es war schwerer, von einer Brücke zu fahren, als es aussah. Man
musste eine ganze Reihe Sicherheitsvorkehrungen der Bauingenieure
überwinden: die einen Meter hohe Leitplanke aus Beton, einen
Metallzaun. Man musste schon sehr viel Pech haben. Oder sich richtig
anstrengen.
    Claire Masland

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