Green, Simon R. - Todtsteltzers Erbe
durch die wütende Menge freigehau
en hatte, um an Finns Seite zu kämpfen … sicherlich
hatte sie dort nicht wirklich gesehen, was sie gesehen
zu haben glaubte: dass der große und legendäre Held
Finn Durandal nur zum Schein kämpfte, nur so tat,
als duellierte er sich mit den bewaffneten Männern
vor ihm. Sicher, nachdem sie erst mal zu ihm gesto
ßen war, erlebte sie mit, wie er die Aufrührer mit
großem Geschick und großer Tüchtigkeit nieder
machte, ohne einen Hauch von Unentschlossenheit
oder Gnade zu zeigen. Emma kam sich schon illoyal
vor, wenn sie nur über die Möglichkeit nachsann,
dass der vorangegangene Kampf vielleicht nicht in
allen Punkten das gewesen war, was er vorgab. Sie
musste jedoch einräumen, dass der tatsächliche Finn
Durandal in vielerlei Hinsicht gar nicht dem gefeier
ten Helden ähnelte, dessen Abenteuer sie dazu inspi
riert hatten, der erste und einzige Paragon von Ne
belwelt zu werden.
Nach Logres zu gehen, das war ihr größtes Ziel
gewesen. An Finn Durandals Seite zu arbeiten, das
war ihr größter Traum gewesen. Sie hätte es besser
wissen müssen. Man sollte niemals seine Helden per
sönlich kennen lernen; sie enttäuschen einen immer.
Und Ehrgeiz war nur eine Selbsttäuschung, die von
der Arbeit ablenkte, die man zu tun hatte. Hier stand
Emma nun, auf dem Höhepunkt ihrer Laufbahn, und
statt sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren und in die
Stadt hinauszueilen, um sie zu ihrer Stadt zu machen
und den örtlichen Schurken zu demonstrieren, wer
hier das Zepter schwang, zauderte sie auf einem lee
ren Dach und suchte nach Antworten auf Fragen, die
selbst keinen Sinn machten.
Trotzdem wollten ihr die Fragen nicht aus dem
Sinn gehen und nagten vielmehr weiter an ihr. Auf
eine Art und Weise, die sie noch nicht begriff, waren
diese Fragen von Bedeutung.
Ihr Gravoschlitten schwebte neben ihr wie ein
treuer Hund, und der Motor lief ganz leise im Leer
lauf. Sie musterte das Gefährt voller Zuneigung. Es
war gut, einen alten Freund dabeizuhaben, etwas,
worauf man sich immer noch verlassen konnte. Sie
hatte den Schlitten den ganzen Weg von Rhiannon
aus mitgenommen und den Raumtransport selbst be
zahlt, als sich die Behörden auf Logres weigerten,
die Kosten zu übernehmen. Bürokraten! Pfennig
fuchser! Emma hatte Jahre darauf verwandt, den
Schlitten zu modifizieren und insgesamt fast ganz
neu zu bauen, damit er exakt ihren hohen Anforde
rungen gerecht wurde; das umfasste zusätzliche Waf
fen und eine stärkere Abschirmung sowie einen gan
zen Haufen (überwiegend legaler) Extras. Der Schlit
ten war stark und schnell und voller Überraschungen,
und Emma wettete jederzeit darauf, dass er allem
standhielt, was die Schurken aufzuweisen hatten.
Wenn sie sich schließlich zur Ruhe setzte (natürlich
erst in vielen Jahren), plante sie, der Armee eine Li
zenz für diese Technik zu verkaufen. Sie gedachte
dabei nicht habgierig zu sein. Sie würde kein Ver
mögen fordern. Nur einen Anteil daran.
Sie stand unmittelbar an der Dachkante, und die
Stiefelspitzen ragten über den tiefen Absturz hinaus.
Sie blickte über die Stadt hinweg. Unter dem niedri
gen Himmel, schwer von dunklen Wolken, die nach
wie vor mit Blut von der gerade aufgegangenen Son
ne bedeckt waren, dehnte sich die Parade der Endlo
sen kilometerweit in alle Richtungen aus, Tausende
von gedrängt stehenden Bauwerken mit Millionen
von Menschen darin. Wegen dieser Menschen war
Emma hier. Für sie war sie verantwortlich; ihnen galt
ihre Pflicht. Ihre Herde, die sie vor den Wölfen und
anderen, weniger leicht erkennbaren Raubtieren zu
schützen hatte. Sie blickte über die mächtigen Türme
und Spitzen und Kuppeln hinweg, die kilometerlan
gen Brücken, die schlanken Hochwege und Spiral
straßen und versuchte darin die große und wunder
volle Stadt zu erkennen, der zu dienen sie sich so
lange erträumt hatte. Alles, was sie erblickte, war
jedoch die stupide Wut, die dumpfe dickköpfige
Bösartigkeit in den Gesichtern der tobenden Menge.
Die vollkommenen Einwohner der vollkommenen
Stadt hatten Paragone niedergemetzelt und sich daran
ergötzt. Der Wind, der Emma umpeitschte, fühlte
sich auf einmal bitterkalt an und voll düsterer Vorbe
deutung, und Emma Stahl wünschte sich nichts sehn
licher, als nach Hause zurückzukehren, zu vertrauten
Anblicken und vertrauten Schurken und einem Bösen
von der Art, wie sie es verstehen konnte.
Und dann war er endlich da, glitt mit einem
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