Green, Simon R. - Todtsteltzers Erbe
Anne hatte sich größte
Mühe gegeben, Jesamine zu erklären, dass sie den
König bei seinem ersten öffentlichen Auftritt im Par
lament nicht in den Schatten stellen durfte, aber ab
gesehen davon, sich eine Tüte über den Kopf zu zie
hen, konnte Jesamine da nur wenig ausrichten. Sie
blendete einfach. Genau das tat sie. Es half auch
nicht, dass sie im Grunde nichts zu tun hatte. Also
beschäftigte sie sich selbst, interessierte sich für alles
und jedes und kam jedermann in die Quere.
Das Zimmer war voll mit dem Allerneuesten an
Lektronen, an Sicherheits- und Überwachungstech
nik, manches davon so neu, dass sich die Kartons, in
denen es geliefert worden war, noch in den Ecken
stapelten. Überall lagen Bedienungshandbücher und
strotzten schon von Lesezeichen und Eselsohren. Al
le möglichen Gerätschaften waren wahllos aufeinan
der getürmt und erweckten in vielen Fällen den be
drohlichen Anschein, gleich umzukippen. Eine ganze
Zimmerwand verschwand hinter Monitoren, die lau
fend wechselnde Bilder vom Rest des Gebäudes
zeigten. Außerdem fand man hier einen spitzenmäßi
gen Lebensmittelautomaten und eine obskure Appa
ratur, die erstklassigen Kaffee zu machen versprach,
falls mal irgend jemand austüfteln konnte, wie man
sie bediente.
Anne Barclay, die heute ein weiteres ihrer schi
cken grauen Kostüme trug, wechselte rasch zwischen
Lektronenterminal und Bildschirm hin und her, und
ihre Augen bewegten sich mit rasender Geschwin
digkeit über eingehende Informationen, wobei sie
konstant vor sich hinmurmelte und dabei auch per
sönliche Notizen auf ihrem Planer festhielt. Sie war
in ihrem Element und genoss jeden Augenblick. Sie
war den größten Teil der Nacht lang aufgeblieben
und arbeitete auch schon den ganzen Vormittag lang
daran, Douglas den Weg für seinen großen Tag zu
bereiten; und falls es kein großer Erfolg wurde, dann,
bei Gott, würde jemand dafür bezahlen, und das war
verdammt sicher nicht Anne selbst! Sie hatte alle Fä
den gezogen, jeden Gefallen eingefordert, den ihr
jemand schuldete, hatte all die richtigen Leute schi
kaniert und beschwatzt und jede mögliche Situation
vorgeplant, die ihr überhaupt einfiel. Jedoch lag es
im Wesen der Politik, dass man von der Entwicklung
immer überrascht werden konnte, und selten auf er
freuliche Art und Weise.
Jesamine fand schließlich nichts mehr, womit sie
sich ablenken konnte. Sie nahm einige leere Kartons
von einem Stuhl, plumpste darauf und schlug mit
elegantem Schwung die langen Beine übereinander.
Sie seufzte laut, damit sie auch aller Welt Aufmerk
samkeit genoss, und verkündete: »Ich liebe einfach,
was du hier erreicht hast, Anne Darling. Es trägt
dermaßen deinen Stempel!«
»Ursprünglich hatten sich Robert und Konstanze
dieses Zimmer für den persönlichen Gebrauch reser
viert«, erklärte Anne und wandte den Blick mit Be
dacht nicht von dem, was sie gerade tat. »Als private
Zuflucht, wo sie sich hinsetzen und unterhalten und
ein paar private Intrigen und Pläne spinnen konnten,
ohne dass man sie laufend störte. Später entwickelte
sich das Zimmer zu einer Sammel- und Sortierstelle
für Informationen, damit das Königspaar sich auf
dem Laufenden halten konnte. Hier gab es immer die
beste Technik, und anscheinend haben die beiden sie
selbst bedient, damit sie sich nicht den Kopf zerbre
chen mussten, wer vertrauenswürdig war und wer
nicht. Damals waren König und Parlament noch da
mit beschäftigt, die Hackordnung der Dinge festzu
legen, und inmitten der ständigen politischen Um
schwünge zeigten sich, Robert und Konstanze ent
schlossen, immer auf der Höhe zu sein.
William und Niamh jedoch erbten eine viel stabi
lere Lage und waren anscheinend zufrieden, dass sich
alles von selbst regelte. Soweit ich weiß, hat keiner
von beiden dieses Zimmer viel benutzt, wenn über
haupt mal. William tauchte im Parlament auf, wenn es
von ihm verlangt wurde, nickte an den richtigen Stel
len und wenn er glaubte, dass alle ihn anblickten, und
sparte sich seine Kräfte für Staatsempfänge und öf
fentliche Auftritte. Bei denen, wie ich sagen muss,
sowohl er als auch Niamh eine sehr gute Figur mach
ten! Niemand konnte lächeln und winken wie sie.
Von der Existenz des Zimmers habe ich erst erfah
ren, als ich Protokollchefin wurde und Roberts Noti
zen erbte. Ich hatte Zugriff auf die ursprünglichen
Baupläne des Parlaments und konnte es auf diese
Weise finden. Als ich schließlich die Tür öffnete, lag
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