Green, Simon R. - Todtsteltzers Rückkehr
schmeckten heißes Leder und Gewürze auf den Zungen. Jemand sang ein Wiegenlied in einer unbekannten
Sprache und mit einer Stimme, die nach aufeinander
prallenden Messern klang. Da war auch eine Empfindung von einem unerbittlich und langsam tickenden Uhrwerk und von Schachfiguren, die sich wie
von eigener Hand über das Spielbrett bewegten. Und
von irgendwo vor ihnen drang das Geräusch langsam
schlagender Riesenschwingen herüber.
Lewis und Jesamine durchwanderten das Labyrinth wie Kinder einen gigantischen Urwald, sprachlos vor Staunen über die Umgebung und unterwegs
zu etwas, was sie spüren, aber nicht benennen konnten. Und ungeachtet ihres ursprünglichen Entschlusses folgten sie irgendwann getrennten Wegen. Jesamine hüpfte munter und furchtlos dahin und summte
dabei ein fröhliches Liedchen, während sich schichtenweise Bedeutung und Relevanz in ihren Gedanken
kristallisierten und sie endlich alle möglichen Dinge
begriff. Das Labyrinth führte sie immer wieder im
Kreis, stieß Türen in ihrem Bewusstsein auf und ließ
frische Luft in staubige alte Kabinen, um sie schließlich wieder zum Eingang zu führen. Sie tanzte hinaus
in die Welt und sang dabei ein herrliches Lied. Die
anderen sahen sie verblüfft an und wandten die Blicke dann dem Eingang zu, als deutlich wurde, dass
Lewis ihr nicht auf dem Fuße folgte.
»Was zum Teufel ist Euch widerfahren?«, wollte
Brett wissen. »Und wo steckt Lewis?«
»Mir geht es prima. Und Lewis ist dort, wo er hingehört.« Sie lächelte Schwejksam an. »Kein Wunder,
dass Ihr es uns nicht erklären konntet! Ich fühle
mich, als hätte jemand mein Gehirn vom Schmutz
vieler Jahre gereinigt. Und Lewis … ist unterwegs
zum Herzen des Labyrinths. Um all die Antworten
zu erfahren. Ich denke nicht, dass ich ihn beneide.«
»Ihr seht anders aus«, fand Brett. »Mehr nach … Euch.«
»Aber danke, Brett! Mir ist, als könnte ich einen
Berg besteigen und dabei eine Arie singen.« Sie
blickte Schwejksam an. »War es auch für Euch so?«
»Jeder erlebt es anders«, antwortete Schwejksam.
»Wir alle werden zu mehr, als wir waren, zu mehr als
Menschen. Ich hoffe nur, dass Ihr alle hier mehr
Glück habt.«
Lewis schritt derweil gelassen durch die sich ständig verzweigenden Korridore des Labyrinths und war
nie im Zweifel, welche Richtung er einschlagen sollte. Er wusste, wohin er ging. Es fühlte sich an, als
käme er nach sehr langer Zeit nach Hause zurück. Es
fühlte sich auch so an, als wanderte er durch einen
Hochofen, dessen Feuer seine Unvollkommenheiten
ausbrannte. Begleitet wurde dies von Schmerz und
Verlust, aber er begrüßte beides, wie heißer Stahl es
begrüßt, zu einer Schwertklinge gehärtet zu werden.
Lewis war ein geborener Krieger, und jetzt verstand
er endlich warum. Die Korridore breiteten sich vor
ihm aus wie die pulsierenden Kerben eines lebenden
Gehirns, wie die Entfaltung einer Blüte im Herzen
der Seele, bis er schließlich den gehüteten Kern erreichte, der im Zentrum des Labyrinths des Wahnsinns ruhte.
Alles stand still. Ein Augenblick der Vollkommenheit im Auge des Sturms. Lewis fühlte sich ruhig
und sicher wie ein Kleinkind in den Armen der Mutter. Er hatte das Gefühl, als könnte er für alle Zeit
hier stehen bleiben, befreit von den Forderungen der
Not oder des Gewissens oder des Ehrgeizes, aber er
war nun mal ein Todtsteltzer, und es war nicht seine
Sache, Pflicht und Bestimmung einfach abzuwerfen.
Er blickte sich langsam um. Er stand auf einer großen runden Fläche, die überwiegend aus reinem weißen Licht bestand. Genau im Mittelpunkt dieser Fläche ragte ein großer leuchtender Kristall auf, der etwas mehr als einen Meter durchmaß. Lewis ging auf
ihn zu und blickte hinein, und im warmen goldenen
Herzen des Kristalls entdeckte er ein winziges Menschenbaby. Es schien etwa einen Monat alt, war von
vollendeter Gestalt, und die undeutlichen Züge zeigten nur Andeutungen der Person, zu der es womöglich heranreifte. Es hatte die Augen geschlossen und
atmete langsam und ruhig, als hätte es alle Zeit der
Welt. Es lutschte mit leichtem Schmollmund fest an
einem Daumen.
»Na, Ihr habt ja recht lange gebraucht, um endlich
zu kommen«, sagte eine Stimme, die Lewis kannte.
Lewis blickte sich um und war nicht wirklich
überrascht, die kleine graue Gestalt Vaughns direkt
neben sich zu entdecken. Eine kleine graue Hand, an
der Finger fehlten, tauchte aus dem Ärmel auf und
winkte ihm kurz zu, ehe sie wieder
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