Gregor und der Spiegel der Wahrheit
Strophe hieß es, wenn sie das nicht taten, würden sie sterben. Gut, das wussten sie.
Doch die Worte in der zweiten, vierten, sechsten und achten Strophe. Die Strophe, die sich wiederholte. Das war das Verwirrende.
Dreht euch um und um und um
ihr seht das Was, nicht Wann, Warum.
Wenn Heilung und Böses sich verweben
formt sich eine aus zwei Reben.
»Dreht euch um und um und um«, sagte Gregor. »Was soll das heißen?«
»Bevor ich dich mit den unterschiedlichen Lehrmeinungen der letzten Jahrhunderte belaste, Gregor, was ist deine Deutung?«, sagte Vikus.
Gregor führte sich die Strophe noch einmal vor Augen und wendete die Worte hin und her. »Tja, das klingt für mich so, als wollte Sandwich uns sagen … dass wir uns irren. Dass das, was unserer Meinung nach passiert … in Wirklichkeit nicht passiert.«
»Ja. Und wir irren nicht nur jetzt. Auch wenn wir uns umdrehen und wieder umdrehen, sehen wir nicht die Wahrheit«, sagte Nerissa.
»Aber … wenn wir uns irren … warum tun wir dann überhaupt irgendwas?«, fragte Gregor. »Wieso gehen wir dann überhaupt zu dem Weingarten der Augäpfel oder wie der heißt?«
»Weil die einzige andere Möglichkeit im Nichtstun bestünde«, sagte Vikus. »Und es ist eine Reise angezeigt. Wir müssen zur Wiege gehen, um das Heilmittel zu finden. Es ist doch wahrscheinlich, dass die ›eine aus zwei Reben‹ in einem Weingarten wächst, nicht wahr? Also gehen wir hin, und vielleicht werden wir unterwegs auch diese Strophe entschlüsseln.«
»Wenn Sie ›wir‹ sagen, meinen Sie damit sich selbst und mich? Kommen Sie diesmal mit?«, fragte Gregor hoffnungsvoll.
Vikus lächelte. »Nein, Gregor. Ich gestehe, dass ich ein etwas allgemeineres ›Wir‹ gebraucht habe. Doch vielleicht ist es dir ein Trost zu hören, dass Solovet plant, dich zu begleiten.«
»Immerhin«, sagte Gregor. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn Vikus helfen würde, die Prophezeiung zu entschlüsseln, doch er wusste, dass Solovet die bessere Kämpferin war. Und wenn dieser Weingarten so gefährlich war, wiealle meinten, würde er sie dort brauchen. »Und Ripred, kommt der mit?«
»Er sagt, er will es um keinen Preis verpassen«, sagte Vikus.
Gregor wurde es ein wenig leichter ums Herz. Wenn Ripred und Solovet dabei waren, konnten sie es schaffen.
Ein Unterländer klopfte an die Tür und verkündete, dass sie gebraucht würden.
»Dann sind die Ratten und die Krabbler wohl zurückgekehrt«, sagte Vikus. »Wir werden die Besprechung in den Mauern des Palasts fortsetzen. Kommt, wir gehen.«
Als sie den Flur entlanggingen, wollte Gregor Nerissa den Handspiegel zurückgeben. »Behalte ihn«, sagte sie. »Wer weiß, vielleicht ist er dir noch von Nutzen.« Geistesabwesend steckte er den Spiegel in die hintere Hosentasche.
In dem Moment, als sie die Schwelle überschritten, wusste er, wo er war. Wie hätte er es auch vergessen können? Er betrachtete die steinernen Tribünen, die sich um eine Bühne in der Mitte eines kreisrunden Saals erhoben. Auf dieser Bühne hatten Ares und er den Eid gesprochen, der sie aneinanderband. Jetzt war die Bühne leer, doch auf der Tribüne waren mehrere Gruppen von Zuschauern. Der Rat der Menschen besetzte einen Abschnitt. Rechts davon saßen die Fledermäuse, links die Kakerlaken, und die Ratten liefen um die Bänke auf der anderen Seite der Bühne herum.
Vikus und Nerissa gesellten sich zu den Menschen, während Gregor ein ähnlich merkwürdiges Gefühl befiel wie einmal in der Cafeteria, als Angelina und Larry gleichzeitig krank waren und nicht zur Schule kommen konnten: Er wusste nicht, wo er sich hinsetzen sollte. Nicht zu den Ratten, das war klar. Doch den Rat von Regalia mochte er nicht besonders – die meisten Ratsmitglieder würden Gregor wahrscheinlich immer noch am liebsten wegen Verrats von einer Klippe werfen. Die Fledermäuse hatten Ares das Leben vergällt, indem sie ihn verstoßen hatten. Schließlich setzte Gregor sich zu den Kakerlaken. Sie waren die Einzigen, in deren Gegenwart er sich wohlfühlte.
Vikus eröffnete die Besprechung mit einer förmlichen Begrüßung. Dann kam er gleich zur Sache. »Es hat den Anschein, als würde die Reise zum Weingarten der Augen von Minute zu Minute dringlicher. Wir müssen augenblicklich beginnen. Für die Reise vorgeschlagen sind derzeit Gregor und Boots, da die Prophezeiung nach dem Krieger und der Prinzessin verlangt. Nike wird ihr Flieger sein. Mit ihr haben wir so gleichzeitig noch eine Prinzessin,
Weitere Kostenlose Bücher