Gregor und der Spiegel der Wahrheit
würden auch die Insekten sterben. Nicht auf dieselbe Weise wie die Warmblüter; die Bazillen würden sich in ihrem Körper vermehren und sie töten. Doch bei dieser Seuche ist es anders. Wir gehen davon aus, dass bisher kein Insekt daran gestorben ist. Auch kein Fisch oder Schuppenkriechtier. Deshalb sprechen wir von der Seuche der Warmblüter und nicht von der Seuche des Unterlands«, sagte Neveeve.
»Ripred hat gesagt, in Regalia können Sie die Symptome behandeln«, sagte Gregor.
»Ja, wir können die Schmerzen lindern, das Fieber senken, Schlafmittel geben, doch damit lässt sich die Pest nicht bekämpfen«, sagte Neveeve. »Wir versuchen, ein eigenes Heilmittel zu entwickeln für den Fall, dass eure Suche ohne Erfolg bleiben sollte. Doch fast niemand von uns glaubt, dass das gelingen kann«, sagte Neveeve mit einem schwachen Lächeln. »Ich glaube daran, dass wir es können, doch es braucht Zeit.«
Zeit. Das war letztlich das Entscheidende. »Wie lange hat man noch, wenn man gebissen worden ist?«, fragte Gregor.
»Das ist ganz unterschiedlich. Ares beispielsweise war der Erste im Unterland, der erkrankte, doch er hat erstaunlicheWiderstandskräfte. Howard und Andromeda haben erst in den letzten Tagen Symptome entwickelt. Aber wir wissen nicht, ob sie sich bei den Mücken angesteckt haben oder als sie Ares ins Krankenhaus brachten. Deine Mutter … sie wurde von einem Floh gebissen, der auf Ikarus gesessen hatte, einem weit fortgeschrittenen Fall …« Neveeve zögerte.
»Ich will es wissen«, sagte Gregor. »Wie lange geben Sie ihr?«
Neveeve senkte den Blick und massierte sich mit zitternder Hand die Stirn. »Wenn es schlecht verläuft … dann könnten wir sie in zwei Wochen verlieren.«
11. Kapitel
D er Steinfußboden war kalt. Gregor lag auf der Seite und hielt einen kleinen Spiegel in der Hand. Er versuchte die Prophezeiung des Bluts zu lesen, aber das war nicht so einfach.
»Ich kann das Ding sowieso schon auswendig«, sagte er.
»Das wissen wir, Gregor, doch Nerissa und ich sind uns einig, dass du unbedingt das Original studieren solltest«, sagte Vikus. »Vielleicht lässt die Art, wie es geschrieben ist, Rückschlüsse zu.«
Also starrte Gregor wieder in den Spiegel.
Sandwichs Prophezeiungen waren allesamt in einem steinernen Raum zu finden. Die ersten beiden, in denen Gregor vorkam, waren in großen Buchstaben in die Wand gemeißelt. Die dritte dagegen war fast unmöglich zu entziffern.
Erstens befand sich die Prophezeiung des Bluts auf dem Fußboden, was halb so schlimm gewesen wäre, hätte Sandwich sie nicht ganz in die Ecke gequetscht. Zweitens waren die Buchstaben winzig und hatten lauter überflüssige Schnörkel und Schleifen. Und obendrein war das Ganze in Spiegelschrift geschrieben.
Wie Gregor sich auch verrenkte oder wie er das Licht hielt oder blinzelte, um die Buchstaben zu entziffern, er hatte doch nie ein klares Bild. Als er einen Krampf in der Hand bekam, mit der er den Spiegel festhielt, gab er schließlich auf.
»Was soll das? Es sieht so aus, als ob Sandwich gar nicht wollte, dass wir das Ding lesen können«, sagte Gregor.
»Doch, das wollte er, Gregor. Sonst hätte er es gewiss nicht geschrieben«, sagte Vikus. Der alte Mann kniete sich hin und fuhr mit der Hand über die Prophezeiung. »Doch Nerissa glaubt, er habe uns das Lesen absichtlich erschwert.«
»Ja? Und warum, Nerissa?«, fragte Gregor. Er setzte sich auf und sah sie an.
Als Luxa im Rattentunnel verschwunden war, hatte man Nerissa, das letzte lebende Mitglied der königlichen Familie, zur Königin gekrönt. Viele waren dagegen gewesen, weil sie sie mit ihren Zukunftsvisionen für wahnsinnig hielten. Andere bezweifelten ganz einfach, dass sie der Aufgabe körperlich gewachsen war. Im Moment saß sie in einen Umhang gehüllt auf dem Boden und lehnte sich an die Wand. Jetzt, als Königin, war sie besser gekleidet als früher und trug das Haar ordentlich hochgesteckt. Doch sie wirkte so knochig und zittrig wie eh und je.
»Weil die Prophezeiung selbst schwer zu lesen ist. Ihre Bedeutung … ist schwer zu verstehen«, sagte Nerissa.
»Eigentlich finde ich nur den einen Teil verwirrend«, sagte Gregor. In der ersten Strophe hieß es, dass es eine Pest geben würde. Gut, die hatten sie jetzt. In der dritten Strophe hieß es, Gregor und Boots sollten kommen. Gut, sie waren da. In der fünften Strophe hieß es, die Warmblüter müssten das Heilmittel finden. Gut, das wollten sie versuchen. In der siebten
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