Gregor und der Spiegel der Wahrheit
Ameisen dafür empfänglich, denn schon rissen die Ranken die willigen Insekten in Stücke. Es dauerte nicht lange. Innerhalb weniger Minuten waren alle Ameisen zerlegt und auf den Boden des Dschungels geworfen. Die Wurzeln schoben sich darüber und bedeckten sie. Und dann kehrte wieder Stille ein.
Gregor rieb sich die Augen und rappelte sich auf. Ripred und Lapblood kauerten hinter ihm. Luxa saß immer noch auf Nikes Rücken. Inmitten von toten Ameisen lag ausgestreckt auf dem Feld Frills schöner blaugrüner Körper, die Haut mit zahllosen Schnittwunden bedeckt. Gregor versuchte zu erkennen, ob ihre Brust sich bewegte, doch sie war reglos wie ein Stein.
Temp saß am Rand des Dschungels über eine Gestalt auf dem Boden gebeugt. Da sah Gregor, dass es Hamnet war.
»Onkel!«, schrie Luxa, und sie rannten über das Feld zu ihm hin.
Als sie bei Hamnet ankamen, sahen sie, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Aus einem klaffenden Loch unterhalb seines Brustkorbs quoll stoßweise Blut und bildete eine Lache um ihn herum.
Luxa kniete sich neben ihn und fasste seine Hand. »Judith«, flüsterte er. »Judith …«
»Ja, ich bin Judith. Ich bin bei dir«, sagte Luxa.
»Hazard … Versprich mir … dass er kein … er soll auf keinen Fall ein Krieger werden«, sagte Hamnet.
»Ich verspreche es«, sagte Luxa. »Hamnet? Hamnet?« Doch seine violetten Augen waren leer. Er hatte die Welt verlassen.
Auf keinen Fall ein Krieger, dachte Gregor dumpf. Oh, er soll auf keinen Fall so werden wie ich.
Langsam hob Luxa die Hand und schloss Hamnets Augen. Dann fuhr sie mit den Fingern über seine Wange und wischte einen Blutstropfen weg.
»Hier stirbt ein edles Herz«, sagte Ripred. Er streifte Hamnets Kopf mit der Nase. »Nimm eine Locke mit. Für seine Eltern«, sagte er zu Luxa. Sie schnitt Hamnet eine Haarsträhne ab und steckte sie sorgfältig in ihren Gürtel.
Alle saßen sie um Hamnets toten Körper herum, mitten auf dem verwüsteten Feld, ohne auf das Blut und die klebrige lila Flüssigkeit zu achten, die die Ameisen verspritzt hatten. Sie hatten ihre Freunde verloren. Sie hatten den Sternschatten verloren. Und damit auch alle Hoffnung.
24. Kapitel
G regor starrte eine Weile zu Boden, bis er merkte, dass er etwas sah, das ihm bekannt vorkam. Unter dem ganzen Dreck lag der Spiegel, den er Boots zum Spielen gegeben hatte. Sie musste ihn wohl verloren haben. Er hob ihn auf und putzte ihn langsam mit seinem T-Shirt. Wenigstens mussten Boots und Hazard die Schlacht nicht mit ansehen, dachte er. Hazard hatte nicht gesehen, wie sein Vater und Frill starben. Und Boots hatte nicht gesehen, wie Gregor auf die Ameisen einhieb.
»Warum haben sie das getan?«, fragte Gregor schließlich. »Warum wollten die Ameisen das Heilmittel zerstören?«
»Sie betrachten uns als Feinde«, sagte Ripred. »Alle Warmblüter, aber vor allem uns Ratten. Dass die Menschen uns an ihre Grenzen gedrängt haben, war nicht gerade hilfreich.«
Gregor erinnerte sich dunkel daran, dass Ripred dasschon einmal erwähnt hatte, wann war das gewesen? Bevor er sich auf die Jagd nach der weißen Ratte gemacht hatte. Beim Abendessen in Regalia vor langer, langer Zeit. Ripred hatte Solovet vorgeworfen, dass sie die Ratten aushungerte und an die Ameisengrenze trieb.
»Es war ein ausgezeichneter Plan, das muss man ihnen lassen«, sagte Ripred. »Sie brauchten nur zu kommen und das Feld zu zerstören. Schon bald werden ihre Probleme mit den Warmblütern nur noch Erinnerung sein.«
»Woher wussten sie, wo das Feld liegt?«, fragte Gregor.
»Ach, das war bestimmt leicht rauszufinden. Wahrscheinlich wusste das ganze Unterland, dass wir auf der Suche nach dem Heilmittel waren. Und man kann nicht mit so einer bunten Truppe, wie Hamnet uns nannte, in den Weingarten ziehen, ohne dass es jede Menge Tratsch gibt. Sie mussten nur in Erfahrung bringen, wann und wo wir das Heilmittel finden. Zahllose Insekten hätten diese Information nur zu gern geliefert, stimmt’s, Temp?«
»Zahllose Insekten«, bestätigte Temp. »Hasst man hier, die Warmblüter, hasst man.«
»Warum?«, fragte Gregor.
»Wir haben das beste Land. Die fruchtbarsten Felder. Wenn wir etwas haben wollen, das nicht uns gehört, nehmen wir es uns, so sagen sie. Sie finden, wir haben zu wenig Respekt vor den anderen Lebewesen«, sagte Nike mit einem Seufzen.
»Das stimmt ja auch«, sagte Gregor. »Ich meine, ihr behandelt die Kakerlaken wie den letzten Dreck. Zum Beispiel bei der Versammlung, als
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