Greife nie in ein fallendes Messer
ließ gerade für deutsche Aktien hoffen, denn verglichen mit der Wall Street hatte |269| der DAX den größeren, in Europa vielleicht sogar den größten Nachholbedarf.
Auf das Jahr 2006 bezogen, lag das durchschnittliche Kurs-Gewinn-Verhältnis der großen europäischen, also auch der deutschen Konzerne bei 12, im langjährigen Durchschnitt war bisher bei den Aktienkursen das 16-Fache üblich gewesen. In den USA sah das zweifellos anders aus. Gemessen an den erwarteten Unternehmensgewinnen, waren die Aktien nicht gerade billig. Folglich mussten die US-Börsen allmählich Dampf ablassen, während die deutschen Aktienkurse noch viel Spielraum nach oben hatten.
Konjunkturabhängige Maschinenbautitel wie MAN oder den Stahlproduzenten ThyssenKrupp hielt ich für sehr interessant, wie auch die Finanztitel Deutsche Bank oder Allianz und Münchener Rück, Chemietitel wie BASF oder Schering und auch Hightech-Titel wie SAP. Kurz gesagt: Die Crème der deutschen Aktien schien mir Anfang 2006 eindeutig unterbewertet zu sein und damit reizvoll für die amerikanischen Schnäppchenjäger. Die deutschen Unternehmen verdienten gut, trotz der schwachen Binnenkonjunktur. Und sie zählten in meinen Augen zu den großen Nutznießern des kommenden Konjunkturaufschwungs in Europa. Verunsichert durch eine problematische Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik im eigenen Land, hatten sie in den letzten Jahren ihre Produktionsstätten weitgehend ins kostengünstigere Ausland verlagert und von dort aus Absatzmärkte in aller Welt erobert. Die deutsche Industrie, die großen Dienstleister aus Forschung und Entwicklung sowie aus dem Banken- und Versicherungsbereich, sie alle hatten in einem erstaunlichen Ausmaß von Globalisierung und EU-Erweiterung profitieren können. Zudem hatte die jüngste Schwäche des Euro gegenüber dem US-Dollar auf die Konzerngewinne im Export wie ein warmer Regen gewirkt.
Die Hoffnungen auf weitere Gewinne in der deutschen Wirtschaft keimten aber nicht nur fern der Heimat. Auch auf dem Binnenmarkt deuteten sich erste Erfolge der Reformpolitik an, drückte der desolate Arbeitsmarkt auf die Tariflöhne. Nahezu geräuschlos akzeptierten einsichtige Gewerkschaftsvertreter geringere Zuwachsraten bei den Löhnen und Gehältern, sogar längere Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich. Für 2006 wurde zwar wieder eine härtere Gangart bei den |270| Tarifverhandlungen angekündigt, schon um die hohen Energiepreise und die kommende Mehrwertsteuererhöhung aufzufangen. Doch mit derartigen Zweitrundeneffekten wagten sich die Gewerkschaften auf vermintes Gelände, wie die EZB anlässlich ihrer jüngsten Zinserhöhung von 2 Prozent auf 2,25 Prozent im Dezember des vorhergegangenen Jahres zu verstehen gegeben hatte.
Diese erste Zinsanhebung seit fünf Jahren im Raume der europäischen Gemeinschaftswährung musste nicht unbedingt den Anfang einer lang anhaltenden Zinserhöhungsrunde bedeuten. Die Inflationsgefahren waren in Deutschland noch nicht übermäßig groß, aber sie waren aus der Sicht der EZB Grund genug, schon einmal vorsichtshalber mit den Folterinstrumenten zu rasseln. Überhöhte Tarifabschlüsse konnten weitere Zinsanhebungen zur Folge haben.
Die warnende Botschaft war nicht nur an die Gewerkschaften gerichtet. Ein weiterer Adressat war die Bundesregierung. Sie wurde unverblümt aufgefordert, möglichst schnell ihren Haushalt in Ordnung zu bringen. Offenbar war die EZB unzufrieden mit der Schrittgeschwindigkeit in Sachen Reformpolitik.
Im Grunde war der Staat von einer Leitzinserhöhung am ärgsten betroffen. Bund, Länder und Kommunen standen bei den Kreditinstituten mit 1 450 Milliarden Euro in der Kreide und mussten dafür wie jeder Normalsterbliche jährlich Zinsen zahlen. Rein rechnerisch belastete eine Zinserhöhung um 0,25 Prozentpunkte oder 25 Basispunkte die Staatshaushalte jährlich um einen hohen einstelligen Milliardenbetrag. Nun werden nicht für alle Schulden die Zinssätze neu vereinbart, denn schließlich gibt es, wie bei einer gewöhnlichen Baufinanzierung, Zinsfestschreibungen mit unterschiedlichen Laufzeiten. Dennoch konnte Finanzminister Peer Steinbrück sich leicht ausrechnen, wohin weitere Zinserhöhungen führen würden.
Die Finanzmärkte reagierten auf die höheren Eurozinsen gelassen. Gegenüber dem US-Dollar legte der Euro kaum zu, wurden doch in den USA bis zum Frühjahr noch zwei bis drei weitere Zinsschritte nach oben erwartet. Der europäischen Konjunktur täte die jüngste Zinserhöhung
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